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Aus: Ausgabe vom 07.12.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukraine-Krieg

Es knirscht in Kiew

Die schlechte militärische Lage veranlasst Selenskijs ehemalige Bündnispartner, ihn zu kritisieren. Die Allianz mit Oligarch Kolomoiskij ist zerbrochen.
Von Reinhard Lauterbach
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Oligarch und Exfreund. Igor Kolomoiskij erhebt aus dem Knast schwere Vorwürfe gegen Selenskij

Die für die Ukraine schlechte militärische Lage hat in der politischen Klasse des Landes alte Konflikte wieder aufreißen lassen. Politiker aus der Partei von Expräsident Petro Poroschenko trauen sich inzwischen, für einen Waffenstillstand entlang der Frontlinie einzutreten. Dies geschieht mit dem Ziel, die juristische Möglichkeit für reguläre Neuwahlen sowohl des Parlaments als auch des Präsidenten zu eröffnen. Solange der Kriegszustand gilt, sind Neuwahlen und Referenden jeder Art in der Ukraine verboten.

Derweilen ist die Allianz zwischen Selenskij und dem Oligarchen Igor Kolomoiskij, der ihn über seinen Fernsehsender 1+1 2019 maßgeblich an die Macht gepuscht hatte, zerbrochen. Es ist offensichtlich das Geld, bei dem für Kolomoiskij die Freundschaft aufhörte. Er erklärte in einem Interview mit der – wohlgemerkt ihm selbst gehörenden – ukrainischen Nachrichtenagentur UNIAN, Selenskij und dessen Kanzleichef Andrij Jermak hätten ihm Ende 2022 gegen seinen Willen das Aktienpaket der Ölverarbeitungsfirma Ukrnafta entzogen. Das offizielle Argument, die Enteignung sei zugunsten der Armee erfolgt, damit diese eine ungestörte Treibstoffversorgung habe, sei erlogen gewesen. In Wahrheit gehe es Selenskij und Jermak darum, über Strohmänner im Militär aus den Treibstofflieferungen persönliche Profite zu ziehen. Kolomoiskij, der sich nach dem »Euromaidan« noch als »jüdischer Banderist« bezeichnet hatte, nannte die Ukraine jetzt »eine Diktatur mitten in Europa«. Alexander Dubinskij, ein ehemaliger Topjournalist von Kolomoiskijs TV-Sender beschuldigte Selenskij und Jermak, aus persönlichen Profitinteressen jeden Ansatz zu einer Verhandlungslösung torpedieren zu wollen, weil an der Fortdauer des Krieges neben ihrer Macht auch ihre finanziellen Interessen hingen. Sowohl Kolomoiskij wie auch Dubinskij befinden sich gegenwärtig in Untersuchungshaft, ersterer wegen der Umstände, unter denen er 2016 seine »Privat«-Bank fast in den Konkurs geführt und die Nationalbank zu ihrer Verstaatlichung gezwungen hatte, der zweite wegen angeblichen Landesverrats. Um so interessanter ist, dass beide Häftlinge durch ihren Status nicht gehindert sind, Interviews zu geben und in sozialen Netzwerken ihre Vorwürfe zu erheben.

Was an diesen Vorwürfen dran ist, bleibt von außen schwer zu beurteilen. Die Nationale Antikorruptionsbehörde der Ukraine hat nach Kolomoiskijs Angaben abgelehnt, Ermittlungen wegen der Umstände der Enteignung seines Aktienpakets bei Ukrnafta aufzunehmen, was der Oligarch ihrer Steuerung durch die Präsidialadministration zuschreibt. Es kommt also bei der öffentlichen Wirkung der Vorwürfe im wesentlichen darauf an, ob man sie als Teil des Publikums als plausibel ansieht. An dieser Stelle hat Selenskij schon keinen Ruf mehr zu verlieren. Sein anfängliches Image als Gegner der Korruption hat unter den Kriegsbedingungen mindestens stark gelitten. So ist es offenkundig, dass die Mobilisierung für die ukrainische Armee den beteiligten Beamten – und Leuten in der Befehlskette über ihnen – enorme Möglichkeiten der Bereicherung bietet.

Unter anderem aus diesem Grund weigert sich Selenskij seit Monaten, der Forderung vor allem aus den USA nachzukommen, das Einberufungsalter für die Armee auf 18 Jahre herabzusetzen. Dies würde der Armee eine Million zusätzlicher Rekruten zuführen können, wäre aber erstens extrem unpopulär und zweitens vom Standpunkt der Bereicherungsinteressen des Militärapparats kontraproduktiv. Denn von Männern im sogenannten besten Alter mit gefestigter beruflicher Situation kann man ganz andere Schmiergelder erwarten als von jungen Leuten, die gerade aus der Schule kommen.

Der erste Grund aber, warum Selenskij die Frage der Absenkung des Einberufungsalters so hinhaltend behandelt, also die Rücksichtnahme auf mangelnde Popularität der Maßnahme, bedeutet, das der Präsident offensichtlich noch nicht beschlossen hat, auf eine Wiederwahl zu verzichten bzw. die Hoffnung auf einen Erfolg in solchen Wahlen aufzugeben. Nach zuletzt in westlichen Medien verstärkt gestreuten Gerüchten soll aber die künftige US-Administration daran interessiert sein, ihn loszuwerden. Die rechte spanische Zeitung El Mundo schrieb zuletzt sogar, die Pläne für Selenskijs »goldenes Exil« in London seien schon weit fortgeschritten, der Versuch eines gütlichen Abgangs scheitere einstweilen aber daran, dass der noch amtierende ukrainische Präsident unerfüllbare Bedingungen für einen Waffenstillstand stelle.

Hintergrund: Stimmung kippt

Erstmals seit Monaten sind in der Ukraine Umfragedaten über die Haltung der Bevölkerung zur Frage Verhandlungen oder Weiterkämpfen veröffentlicht worden. Genau genommen sind sie allerdings nicht in der Ukraine veröffentlicht worden, sondern in den USA. Das dort ansässige Gallup-Institut, eine in der Branche als vergleichsweise verlässlich geltende Einrichtung, publizierte Ende November die Ergebnisse von zwei Umfragen vom August und Oktober dieses Jahres. Wie in ukrainischen Medien zu lesen ist, decken sich die Ergebnisse im Grundsatz mit Umfragen ukrainischer Institute, die aber aus politischen Gründen nicht veröffentlicht wurden.

Laut Gallup spricht sich in der Ukraine inzwischen erstmals seit Kriegsbeginn eine Mehrheit der Bevölkerung für möglichst rasche Friedens- oder wenigstens Waffenstillstandsverhandlungen aus: 52 Prozent im Landesdurchschnitt. Dem stehen demnach noch 38 Prozent der Befragten gegenüber, die für ein Weiterkämpfen bis zum ukrainischen Sieg sind. Damit hat sich das Verhältnis gegenüber den ersten beiden Kriegsjahren umgekehrt. 2022 waren noch 72 Prozent der Befragten für einen Kampf bis zum Sieg, 2023 63 Prozent. Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass sich die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung im vergangenen Jahr verdoppelt hat. Sogar Wolodimir Selenskij muss dieser Stimmung in seinen abendlichen Videos und bei internationalen Auftritten inzwischen Rechnung tragen und spricht immer wieder von einem Ende des »schrecklichen Krieges«.

Auffällig ist, dass sich der Hurrapatriotismus dort, wo er traditionell am stärksten war, praktisch halbiert hat: von 86 auf 43 Prozent in der Westukraine, von 87 auf 47 in Kiew mit seinem stark von Regierungsangestellten geprägten Publikum.

Allerdings schlägt die Kriegsmüdigkeit offenbar nur in begrenztem Umfang um in Protestaktionen. Es gab spontane Widerstandsakte von Einwohnern, wenn die Behörden Angehörige der Betroffenen von der Straße weg einzogen, aber das ist eine unkoordinierte Masse von Einzelaktionen, die nicht in eine politische Kampagne hinüberwächst. Das liegt sicher auch daran, dass die Kriegsmüdigkeit keine politische Stimme hat, seit alle Organisationen und Parteien mit entsprechenden Zielen seit Kriegsbeginn verboten sind und ihre Aktivisten verfolgt werden.

Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, warum Gallup – dem gute Beziehungen zur Republikanischen Partei in den USA nachgesagt werden – sich jetzt entschieden hat, diese Ergebnisse zu veröffentlichen. Nicht ausgeschlossen ist, dass die Selenskij-Administration auf diese Weise politisch weichgekocht werden soll, damit sie sich möglichen Friedensinitiativen Donald Trumps nicht widersetzt. (rl)

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