Multipolarität in Aktion
Von Reinhard LauterbachRussland hat seinen Krieg um die Ukraine schon sehr früh als einen Krieg definiert, der auch um eine neue Weltordnung geführt werde: nämlich eine multipolare, in der die Stimmen aller Akteure zu Wort kommen sollten und nicht nur die der »goldenen Milliarde« im »kollektiven Westen«. Jede Rede zur internationalen Lage von Wladimir Putin wiederholt diese Argumentation. Russland hatte gut reden, solange es stillschweigend unterstellte, dass seine eigene Stimme zu denen zählen würde, auf die zu hören sein würde.
Was jetzt nach dem Sturz von Baschar Al-Assad aus Moskau kam, war aber eher verlegenes Gestammel. Denn Russland ist faktisch von dem mit türkischer Unterstützung vorgetragenen Angriff diverser Rebellengruppen auf Damaskus kalt erwischt worden. Ob seine Nachrichtendienste nichts ahnten, wird vielleicht irgendwann herauskommen. Dass sein Militär sich nur noch halbherzig engagierte, mag auch an objektiven Beschränkungen gelegen haben. Aber vor allem hat der von Russland als »strategischer Partner« hofierte Recep Tayyip Erdoğan gezeigt, was Multipolarität eben auch heißt: dass jeder, der die Gelegenheit dazu sieht, Fakten schafft, soweit seine Kräfte reichen.
Dass Erdoğan die kurdischen Enklaven im Norden Syriens störten, ist keine Überraschung. Aber die standen und stehen unter dem Schutz der USA, mit denen sich direkt anzulegen der türkische Präsident dann doch nicht wagt. Dass er aber die Tatsache, dass Russland mit der Kriegführung in der Ukraine militärisch und logistisch ausgelastet ist, ausnutzte, um gleich den Regime-Change in Damaskus anzustoßen, passt schon ins Bild einer weiter gefassten Rivalität mit Russland im Vorderen Orient und Zentralasien.
Diese Rivalität kommt nicht erst jetzt zum Vorschein. Sie hat Russland schon gezwungen, im Karabach-Krieg seinen langjährigen Alliierten Armenien fallenzulassen, weil ihm die Beziehungen zu dem von der Türkei gestützten Aserbaidschan wichtiger sein mussten. Moskau schaut mehr oder minder tatenlos zu, wie Erdoğan seinen Einfluss in den zentralasiatischen Exsowjetrepubliken ausbaut. Politisch mit Initiativen wie der »Konferenz der Turkstaaten«, mit denen sich die Türkei auf etwas beruft, was die heutige Türkei bei weitem nicht mehr ist: ein Land der Reiternomaden aus den zentralasiatischen Steppen – historische Kostümierung wie von Marx im »18. Brumaire« karikiert. Aber mit praktischen Konsequenzen: So ist in Kasachstan und Usbekistan geplant, die Landessprachen in den nächsten Jahren auf das lateinische Alphabet in türkischer Rechtschreibung umzustellen und mit der kyrillischen Schrift auch Russlands kulturellen Einfluss zurückzudrängen. Was hilft es, dass sowjetische Linguisten den zentralasiatischen Sprachen überhaupt erst die Schriftlichkeit gebracht haben? Multipolarität ist kein Idyll; sie hebt Konkurrenz nicht auf.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. Dezember 2024 um 10:14 Uhr)Die Beziehungen zwischen den beiden rivalisierenden Regionalmächten Russland und die Türkei sind von Ambivalenz geprägt: Einerseits gibt es strategische Kooperation in Bereichen wie Energie (z. B. Pipeline-Projekte) und Handel, andererseits bleibt die wachsende Rivalität in der Region eine beständige Quelle von Spannungen. Diese zeigt sich nicht nur seit Langem in Syrien, sondern auch zunehmend in Zentralasien, wo die Türkei mit kulturellen und sprachlichen Initiativen aktiv daran arbeitet, Russlands Einfluss zurückzudrängen. Darüber hinaus strebt die Türkei an, die türkischstämmigen Bruderstaaten Kasachstan und Usbekistan als Teil ihres osmanischen Erbes und einer selbst definierten Verpflichtung in eine militärische Allianz einzubinden. Diese Entwicklungen unterstreichen, dass eine multipolare Weltordnung nicht nur neue Allianzen ermöglicht, sondern auch vermehrte Konkurrenz zwischen regionalen Mächten schafft und zusätzliche Risiken birgt.
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