Gleiches Recht für alle
Von Gerrit HoekmanArbeitsvertrag, Krankengeld, Rentenanspruch, Mutterschaftsurlaub, Kündigungsschutz kennen Sexarbeiterinnen bislang nur vom Hörensagen. In Belgien sind sie allerdings seit dem 1. Dezember gesetzliche Realität – als erstem Land auf der Welt. Aber nicht jede oder jeder wird von dem neuen Gesetz Gebrauch machen wollen oder können: Viele ausländische Betroffene sind nicht in Belgien gemeldet und verfügen daher nicht über die nötigen Papiere; andere haben Angst, dass sie mit einem offiziellen Arbeitsvertrag ihre Anonymität aufgeben, was sich negativ auf eine spätere Karriere in einem anderen Beruf auswirken könnte.
»Dies ist ein historischer Schritt«, freut sich UTSOPI, die Interessenvertretung der belgischen Sexarbeiterinnen, auf ihrer Internetseite. Das belgische Parlament hatte das Gesetz Anfang Mai mit 33 Enthaltungen ohne Gegenstimme verabschiedet. Dem Erfolg waren zwei Jahre intensiver Lobbyarbeit vorausgegangen, an der neben UTSOPI auch Espace P. beteiligt war, eine gemeinnützige NGO, die Sexarbeitende in der Wallonie unterstützt.
Wer Sexarbeiterinnen beschäftigt, muss in Belgien ab sofort eine Genehmigung beantragen, die nur erteilt wird, wenn keine schweren Straftaten wie Totschlag, Menschenhandel, Diebstahl oder Betrug im Strafregister stehen. Wer dafür von den Behörden keine Genehmigung erhält, macht sich der Zuhälterei strafbar. Außerdem verlangt das Gesetz ein sicheres Arbeitsumfeld. Zum Beispiel ist in allen Zimmern eines Etablissements ein Notfallknopf verpflichtend, mit dem schnell Hilfe herbeigerufen werden kann. Betroffene haben außerdem das Recht, einen Sexualpartner oder bestimmte sexuelle Praktiken abzulehnen.
Schätzungsweise 30.000 Sexarbeiterinnen gibt es in Belgien. Die übergroße Mehrheit arbeitet in Klubs und Privatwohnungen. Zirka zehn Prozent sitzen in den Fenstern der Rotlichtviertel der belgischen Metropolen. Ihre Zahl sinkt aber offenbar. In der berüchtigten Aarschotstraat in Brüssel bleibe ein Drittel der Fenster mittlerweile leer, berichtete De Standaard im Juni. »Alle Mädchen, mit denen ich vor sechs Jahren hier angefangen habe, sind inzwischen weg«, zitierte die Tageszeitung eine Sexarbeiterin. Belgische Freier kämen ohnehin kaum noch. »Zuviel Elend, zu gefährlich«, vermutete die Frau. »Neulich versuchte einer der Drogendealer, mir eine Waffe zu verkaufen.« Sie habe jetzt genug und wolle angeblich komplett aussteigen.
»Das Gesetz wird Arbeitnehmerinnen besser vor Ausbeutung schützen«, erklärt Mel, die bei UTSOPI aktiv ist, gegenüber VRT Nws. »Ich habe bereits von mehreren gehört, die sich für diesen Status entscheiden werden. Es bietet mehr Vorteile und mehr Sicherheit.« Mel arbeitet seit einigen Jahren als Escort. Manche fürchten aber auch, dadurch ihre Anonymität zu verlieren. Wer einen Arbeitsvertrag besitzt, erscheint nämlich in der Datenbank der Sozialversicherung und der flämischen Arbeitsvermittlung VDAB oder ihres französischsprachigen Pendants Actiris. UTSOPI verlangt deshalb eine Garantie, dass die Anonymität der Daten auch in 20 oder 30 Jahren noch gewährleistet ist. Jetzt müssen die Interessenverbände allerdings noch über das Gehalt verhandeln. Der in Belgien geltende Mindestlohn von 15 Euro die Stunde reicht nach Ansicht von UTSOPI jedenfalls bei weitem nicht aus. Weil aber Sexarbeiterinnen in Zukunft Freier ablehnen dürfen, befürwortet die UTSOPI ein flexibles Modell aus Grundgehalt und Provision, wie es in vielen anderen Berufen üblich ist.
Ob Sexarbeit aber tatsächlich ein Job wie jeder andere ist, darüber wird in der feministischen Debatte und in linken Parteien gestritten. »Kann Sexarbeit im Patriarchat wirklich freiwillig und selbstbestimmt sein? Und was bedeutet Freiwilligkeit im Kapitalismus überhaupt?« fragte der deutsche »Lila Podcast« im Juni 2022. »Müssen Sexarbeiter*innen in ihrem Beruf wirklich die ganz große Leidenschaft finden? Oder können wir die Sexarbeit wie jeden anderen Beruf bewerten, der uns in erster Linie die Miete bezahlen soll?«
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