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Aus: Ausgabe vom 28.12.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Irland nach den Parlamentswahlen

»Der Kampf geht weiter«

Irland: Unabhängige Linke konnten Parlamentssitze nicht halten. Zuversicht für linke Erneuerung durch soziale Aktivitäten in den Städten. Ein Gespräch mit Clare Daly
Von Dieter Reinisch
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Muss sich geschlagen geben: Sin-Féin-Vorsitzende Mary Lou McDonald (M.) beim finalen TV-Duell mit ihren konservativen Kontrahenten (Dublin, 26.11.2024)

Ende November hat Irland ein neues Parlament gewählt. Die beiden konservativen Parteien Fianna Fáil (FF) und Fine Gael (FG) gingen wieder als Sieger hervor, die oppositionelle Sinn Féin (SF) verlor Stimmen. FF und FG werden mit Labour oder Unabhängigen wieder eine Koalition bilden. Sie selbst haben im Wahlkreis der SF-Präsidentin Mary Lou MacDonald kandidiert. Wie schätzen Sie das Ergebnis ein?

Es geht weiter wie bisher, bloß noch schlechter. Nennenswert ist, dass 50 Prozent der Wahlberechtigten kein Interesse gezeigt haben, ihre Stimme abzugeben. Sie hatten wohl nicht den Glauben, dass ihre Stimme irgendeine Änderung bringen würde. Dieses Gefühl haben wir im Wahlkampf sehr stark bemerkt.

Die Gespräche zur Bildung einer neuen Regierung laufen noch, aber die kommende Regierung wird nahezu so aussehen wie gehabt. Anstelle der Grünen, die aufgrund ihrer Beteiligung an der Koalition eine vernichtende Niederlage erlitten haben und nur noch einen Abgeordneten stellen, werden die beiden rechten Parteien wohl ein paar Unabhängige als Mehrheitsbeschaffer heranziehen. Sinn Féin wird die größte Oppositionspartei sein. Die Partei hat ein ordentliches Ergebnis erreicht. Dann gibt es die Linksliberalen, die diesmal Labour und die Social Democrats (Socdems) gewählt haben. Es war also kein Hinzugewinn dieser Parteien am linken Spektrum, sondern eine Verschiebung der Wählerstimmen innnerhalb dieses Spektrums.

Hat sich das unmittelbar vor dem Wahltermin abgezeichnet?

In der Woche vor der Wahl begann eine gewisse Dynamik: weg von unabhängigen Kandidaten, hin zu Parteien. Ich selbst wurde leider nicht gewählt, hatte das aber auch nicht so recht erwartet, da ich erstmals in einem anderen Wahlkreis antrat. Ziel war vorwiegend, auch in diesem Wahlkreis die Fahne der linken Unabhängigen hochzuhalten. Wir hatten recht, aber dann trat ein weiterer Unabhängiger an: Gerry Hutch. Er ist mutmaßlich Chef eines kriminellen Clans in Irland und hat sich im Wahlkampf erfolgreich als der Kandidat gegen den Mainstream positionieren können. Was wir in Irland sehen, ist dasselbe wie im Rest von Europa: Die Bevölkerung hat das Gefühl, dass ihre Stimmabgabe nichts ändert. Die Menschen entfremden sich vom sogenannten demokratischen Prozess, der alles anderes als demokratisch ist.

Während der vergangenen Legislaturperiode hat es so ausgesehen, als könne es einen großen Wahlerfolg für SF geben. Viele sprachen von einem möglichen Erdrutschsieg. 2024 ging es bei den Umfragen für die republikanische Partei aber stetig bergab. Wieso hat sie es nicht geschafft, den Unmut in einen Wahlsieg umzumünzen?

Die einzigen, die davon ausgegangen sind, dass es einen Erdrutschsieg für SF geben wird, war SF selbst. Bei den letzten Wahlen waren sie gemeinsam mit FF stärkste Partei, nun haben sie mehr Kandidaten aufgestellt, aber nur zwei Sitze dazugewonnen (obwohl die Partei 5,5 Prozent der Stimmen verloren hat, jW). Sie hatten also nicht genug, um selbst die Regierung zu stellen. Auf der anderen Seite hat die Regierung viel Geld in die Hand genommen und mit den Steuernachzahlungen von Apple kurz vor der Wahl noch viele Sozialleistungen ausgezahlt. Man kann also fast sagen, dass sie die Wahlen noch gekauft hat.

Das größte Problem in Irland ist die Wohnungskrise, aber es hat sich eine Lethargie eingeschlichen. Die Leute sagen: »Natürlich ist es schlimm, aber was kann man denn dagegen überhaupt tun?« Der Regierung wurde nicht die Schuld dafür gegeben. Gleichzeitig gibt es immer noch eine bestimmte Gruppe, der es ganz gut geht, und diese Schicht reicht aus, um die Regierung weiterhin an der Macht zu halten. SF war über viele Jahre die radikale Alternative. Die Partei hat das schließlich für selbstverständlich genommen und geglaubt, diejenigen, die eine Alternative suchen, werden immer für sie stimmen. Dadurch haben sie ihre Politik zunehmend dem Mainstream angeglichen und wurden gemäßigter. Aber der entscheidende Punkt ist, dass viele Teile der Bevölkerung zu Hause geblieben sind und nicht gewählt haben.

Irland war lange Zeit geprägt von einer Vielzahl unabhängiger, linker Kandidaten. Aber fast alle von ihnen haben bei dieser Wahl verloren. Das begann bereits bei den EU-Wahlen, als Mick Wallace und Sie nicht mehr ins EU-Parlament eingezogen sind, und setzte sich bei den Parlamentswahlen fort. Sogar der unabhängige Linke Thomas Pringle hat in der Grafschaft Donegal seinen Sitz verloren. Wie kam es dazu?

Durch das Wahlsystem gibt es in Irland nicht eine Wahl, sondern in jedem Wahlkreis eine eigenständige Wahl. Zum Verlust der Sitze einiger linker Unabhängiger haben mehrere Faktoren geführt. Besonders in Dublin wurden die progressiven, unabhängigen Kandidaten erdrückt. Denn hier wurde von gewissen Parteien die Vorstellung genährt, dass eine alternative Regierung möglich sei. Diese Idee wurde vor allem von kleineren, linken Parteien in den Wahlkampf hineingetragen. Leute, die ansonsten Unabhängigen ihre Stimmen gegeben hätten, haben dann SF, Socdems und Labour gewählt. Sie hofften, so eine andere Regierung zu bekommen.

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Clare Daly spricht als Abgeordnete des EU-Parlaments im Plenarsaal zum »Digital Services Act« (Strasbourg, 19.1.2022)

In die EU-Wahlen sind Mick Wallace und ich gegangen, nachdem wir in den fünf Jahren zuvor durch eine unbeschreibliche Kampagne des politischen Establishments dämonisiert worden waren. Wir haben beide sehr, sehr knapp unsere Sitze nicht halten können. Daran sieht man, dass die Hasskampagne gegen uns im Grunde keinen Erfolg hatte. Schlussendlich wurde ich in meinem Wahlkreis nicht gewählt, da die trotzkistische Linke (People Before Profit, PBP, jW) mit der Aufstellung einer eigenen Kandidatin die linken Stimmen spaltete. Es war kein Raum für zwei linke Kandidaten und so wurde durch die Zersplitterung der Stimmen keine der linken Kandidatinnen gewählt. Diese Niederlagen linker Kandidaten in den vergangenen Wahlen zeigen die fehlende Organisierung der Linken. Es ist sehr schade, dass Thomas Pringle verloren hat, auch Joan Collins war eine ausgezeichnete, erfahrene linke Abgeordnete, die nicht mehr gewählt wurde. Selbst PBP hat einige Sitze verloren und ist im neuen Parlament nun reichlich dezimiert vertreten.

Wie erklären Sie dieses Abstimmungsverhalten?

Man kann das sicherlich damit erklären, dass die Leute andere Oppositionsparteien gewählt haben, da sie dachten, mit denen besteht eine größere Chance, eine andere Regierung zu erhalten. Es ging den Leuten nicht darum, welche Regierung es werden sollte – Hauptsache irgendeine andere.

Die Hoffnung auf eine linke Regierung unter SF, die lange Zeit propagiert wurde, scheint endgültig verflogen zu sein. Wie ist die Situation der Linken in Irland nach diesen Wahlniederlagen?

Es wird eine linke Erneuerung durch die sozialen Kämpfe in den Stadtvierteln geben. Dieses Feld wurde zuletzt den Rechten überlassen, die in Irland sehr schwach sind. Die Frage der Migration wird immer aufgeblasen, aber diese Frage ist in Irland nicht relevant. Wir haben im Wahlkampf gesehen, dass die Leute selbst aktiv werden und nicht einfach in einem Wahlprozess für jemanden stimmen wollen, der dann die Arbeit für sie macht. Die Menschen wollen selbst gegen Wohnungsräumungen, für Palästina und BDS und soziale Fragen auf die Straße gehen.

Wie blicken Sie auf Ihre politische Zukunft?

Ich habe vor 40 Jahren als Aktivistin in meinem Stadtviertel und auf der Straße begonnen. Ich habe die Menschen organisiert und mit ihnen Kampagnen gemacht. Wir sind dann zu Wahlen angetreten und waren erfolgreich, aber das war tatsächlich nie der Weg, den ich selbst einschlagen wollte. Der einzige Vorteil, gewählte Abgeordnete zu sein, ist, dass die Medien dich nicht mehr ignorieren können und man eine Plattform für die Kämpfe außerhalb der Parlamente hat. Diese Plattform fehlt mir nun, aber die Kämpfe gehen weiter: gegen die Militarisierung Europas, den Genozid in Gaza, die Zerstörung Syriens, den Krieg in der Ukraine und dann die große Gefahr des Klimawandels und der Umweltzerstörung. Alle diese Kämpfe werden außerhalb der Parlamente geführt und gewonnen werden.

Was ist die Rolle Irlands in diesen internationalen Kämpfen?

Die Frage ist nicht, was die Rolle ist, sondern was sie sein könnte. Irland hat sich trotz Neutralität dem EU-Imperialismus unterworfen. Als neutrales Land sollte man genau das Gegenteil machen: Auf der Seite des internationalen Rechts stehen und alles daransetzen, im Rahmen der internationalen Organisationen Lösungen zu finden.

Irland ist selbst unterdrückt und könnte eine Brücke zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden sein. Israel hat gerade erst seine Botschaft geschlossen. Der Regierung gefällt das, weil sie so tun kann, als würde sie sich für die Palästinenser einsetzen, was sie nicht tut. Der Handel mit Israel hat sich seit dem Genozid vervielfacht, und ähnlich ist auch die Herangehensweise an die Ukraine. Die Verwendung des Flughafens in Shannon (im Westen Irlands, jW) für Zwischenlandungen von Waffen- und Truppentransporten der US-Armee hat stark zugenommen. Ich gehe davon aus, dass die neue Regierung weiter die Neutralität unterminieren und sich stärker an ein militarisiertes Europa binden wird.

Clare Daly, geboren 1968, ist irische Politikerin und Mitglied der Partei »Independents 4 Change«. Von 2019 bis 2024 war sie Mitglied des Europäischen Parlaments als Teil der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament – GUE/NGL. Sie ist seit den 1980er Jahren als Sozialistin politisch aktiv. Sie schloss sich der Labour Party an, doch bereits mit 21 Jahren trat sie der trotzkistischen Sozialistischen Partei (SP) bei, von der sie sich 2012 nach 23 Jahren trennte. Für die SP wurde sie 1999 in den Gemeinderat von Fingal gewählt. Den Sitz hatte sie inne, bis sie 2011 bei den Parlamentswahlen im Wahlkreis Nord-Dublin als SP-Kandidatin erfolgreich war. Gemeinsam mit dem linken Angeordneten Mick Wallace und anderen Aktivisten gründete sie im August 2012 die »Vereinigte Linke« und war Parlamentsabgeordnete, bis sie 2019 ins EU-Parlament einzog. Im November trat sie bei den Parlamentswahlen in der Dubliner Innenstadt an.

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