Ein Stück vom Kuchen
Von Wiebke DiehlGanz offensichtlich wusste die noch amtierende Bundesaußenministerin sehr genau, wen sie besuchte. Dementsprechend gelassen nahm die sich als Verfechterin einer wertegeleiteten und feministischen Außenpolitik brüstende Annalena Baerbock am Freitag in Damaskus hin, dass die am Flughafen wartenden Vertreter der Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) ihr den Handschlag verweigerten. Genauso wenig erstaunt war sie Stunden später, als der Al-Qaida- und IS-Terrorist Abu Mohammed Al-Dscholani, der sich inzwischen mit seinem bürgerlichen Namen Ahmad Al-Scharaa ansprechen lässt, nur ihrem französischen Amtskollegen Jean-Noël Barrot die Hand reichte.
Gekommen waren die beiden »im Auftrag der EU«, um einen »politischen Neuanfang« mit den von den Vereinten Nationen als Terrororganisation gelisteten De-facto-Herrschern Syriens auszuloten. Baerbock bemühte dabei den Euphemismus, diese sollten nicht »wieder in islamistische Strukturen verfallen« und bezeichnete die Frauenrechte als »Gradmesser einer Gesellschaft«. Die seit der HTS-Machtübernahme täglich stattfindenden Massaker an Minderheiten und Andersdenkenden erwähnte sie nicht. Aus Sicht derjenigen, die die syrische Bevölkerung fast 14 Jahre mit schwersten Sanktionen stranguliert haben, gilt dies wahrscheinlich als »Kollateralschaden«.
In den Jahren 2010 bis 2023 ist die syrische Wirtschaft Schätzungen der Weltbank zufolge um rund 85 Prozent geschrumpft. Neben dem aus dem Westen, den Golfstaaten und der Türkei erheblich befeuerten Krieg sind auch die Sanktionen maßgeblich hierfür verantwortlich. Im vergangenen Jahr fiel die Wirtschaftsleistung des Landes auf nur noch neun Milliarden US-Dollar (von 67,5 Milliarden im Jahr 2011), womit Syrien auf einer Stufe mit dem Tschad und den palästinensischen Gebieten liegt. Das syrische Pfund hat in den vergangenen 13 Jahren eine deutliche Abwertung erfahren, es kam zu einer Hyperinflation. Experten gehen davon aus, dass es zehn Jahre dauern könnte, bis das Land – bei positiven Bedingungen – das BIP-Niveau von 2011 erreicht. Der Wiederaufbau könnte bis zu zwei Jahrzehnte dauern.
Die Infrastruktur des Landes, das Strom- und Transportnetz, das vor dem Krieg hervorragende Gesundheitssystem sowie ganze Städte sind nachhaltig zerstört. Nur wenige Stunden am Tag ist in Syrien Strom verfügbar. Ölexporte, die vor dem Krieg etwa ein Drittel der Staatseinnahmen ausmachten, wurden nicht nur durch die Sanktionen verunmöglicht. Die syrische Regierung verlor auch die Kontrolle über die für die Versorgung der Bevölkerung elementaren Ölfelder – zuerst an die damalige Nusra-Front (heute HTS) und den »Islamischen Staat« (IS) und später an die von den USA unterstützten, kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK). Seither stehlen US-Besatzungssoldaten syrische Ölvorräte und syrischen Weizen.
Die Sanktionen der USA und der EU hatten immer explizit zum Ziel, einen Wiederaufbau Syriens zu verhindern, solange Baschar Al-Assad an der Macht bliebe. Man schnitt das Land weitgehend vom globalen Finanzsystem ab. Wer mit Syrien Geschäfte machen wollte, wurde ebenfalls mit Sanktionen bedroht. In Verbindung mit der vorherrschenden Korruption haben die schwierigen Lebensbedingungen, die die syrische Bevölkerung seit fast 14 Jahren ertragen musste und die sich zuletzt immer weiter verschärften, zum für die meisten Beobachter überraschenden Sturz der Regierung Assad beigetragen. Äußerst schlecht bezahlte Soldaten desertierten in Scharen, viele flohen in den Irak, nachdem die Terrormilizen unter Führung der HTS am 27. November ihre Großoffensive gestartet hatten. So konnten diese am 29. November in Syriens zweitgrößte Stadt Aleppo einrücken, am 5. Dezember Hama, am 7. Dezember die drittgrößte Stadt Homs und in der Nacht zum 8. Dezember schließlich die Hauptstadt Damaskus einnehmen.
Der Beginn der Offensive, nur einen Tag nach Inkrafttreten der Waffenruhe zwischen der libanesischen Hisbollah und Israel, war klug gewählt. Viele der iranischen Militärberater hatten Syrien infolge zahlreicher israelischer Luftangriffe verlassen. Die Hisbollah hatte einen Großteil ihrer Kämpfer und Kommandeure in den Libanon zurückbeordert, als der Krieg dort eskalierte. Ohne die beiden Kräfte, die maßgeblich zur Rückeroberung Syriens von dschihadistischen Milizen während des Kriegs beigetragen hatten, war die syrische Armee erheblich geschwächt. Offenbar war man in den Kommando- und Kontrollzentren nicht in der Lage, eine effektive Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Russland hat die Regierung Assad in dieser Situation entweder fallengelassen oder sah sich nicht in der Lage, sie weiter zu stützen.
Seit dem politischen Erdbeben vom 8. Dezember geben sich Vertreter regionaler und westlicher Staaten in Damaskus die Klinke in die Hand, teilen die Beute des kriegsgeschundenen Landes unter sich auf und fabulieren von einem »inklusiven« Syrien unter Extremisten. Diejenigen, die das Leid der syrischen Bevölkerung jahrelang in Kauf genommen, ja gewollt haben, um den Sturz der Regierung doch noch zu erreichen, sprechen plötzlich von einem möglichen Ende der Sanktionen, von Wiederaufbauhilfen und einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation. Entscheidend ist, dass sich die HTS und andere dschihadistische Milizen nie gegen Israel oder westliche geopolitische Interessen gewandt haben. Dass sie jetzt neue Schulcurricula auflegen, in denen Juden und Christen als »vom rechten Weg Abgekommene« bezeichnet werden, und Alawiten massakrieren, ist da nachrangig.
Hintergrund: HTS an der Macht
Am Wochenende kursierten in den »sozialen« Medien Videos aus dem Jahr 2015, in denen der neue »Justizminister« der HTS-Regierung in Syrien, Schadi Mohammed Al-Waisi, zu erkennen ist. Unter der Herrschaft der damaligen Nusra-Front, die sich später in HTS umbenannte, beaufsichtigte er die öffentliche Hinrichtung zweier Frauen im Namen der Scharia nach Auslegung der dschihadistischen Miliz. Vorgeworfen wird den beiden Prostitution und Ehebruch.
Die Faktencheckplattform »Verify Sy« hat sich nach eigenen Angaben von der De-facto-Regierung in Damaskus bestätigen lassen, dass es sich tatsächlich um Al-Waisi handelt, der damals als »Richter« fungiert habe. Der namentlich nicht genannte Beamte habe erklärt, das Filmmaterial spiegele »ein Stadium wider, das wir angesichts der aktuellen rechtlichen und verfahrenstechnischen Veränderungen hinter uns gelassen haben«.
Al-Waisi war am 10. Dezember von Interimspremier Mohammed Al-Baschir ernannt worden. Bei seinem Amtsantritt hatte er angekündigt, er wolle alle weiblichen Richter aus dem Justizdienst entfernen. Al-Baschir selbst war bereits Chef der HTS-Regierung in Idlib sowie Minister für humanitäre Angelegenheiten. Unter seiner Ägide wurde nicht nur humanitäre Hilfe veruntreut, sondern auch Andersdenkende sowie religiöse und ethnische Minderheiten entrechtet, gefoltert und ermordet. Auch der neue »Außenminister« Assad Al-Schaibani und »Verteidigungsminister« Murhaf Abu Kasra sind altbekannte und hochrangige HTS-Dschihadisten.
In der vergangenen Woche hat HTS-Chef Al-Dscholani zudem zahlreiche ausländische Kämpfer extremistischer Gruppen in hohe militärische Positionen befördert. Die in den Reihen der Dschihadisten kämpfenden Nicht-Syrer sind besonders bekannt für Übergriffe gegen Minderheiten und für willkürliche Hinrichtungen. Nach Angaben des US-Außenministeriums kämpften während des Syrien-Kriegs über 40.000 ausländische Kämpfer aus über 100 Ländern gegen die Regierung Assad. (wd)
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