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Aus: Ausgabe vom 18.01.2025, Seite 10 / Feuilleton
Chemnitz

Heute noch ein Apfelbäumchen

Betonwüsten und Streuobstwiesen: Karl-Marx-Stadt ist Europäische Kulturhauptstadt 2025
Von Thomas Behlert
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Nicht ohne Nischel: Chemnitz feiert

Am Sonnabend wird gefeiert, nun ist man offiziell »Europäische Kulturhauptstadt 2025«: Mit einem Programm unter dem Motto »C the Unseen« will Chemnitz, gemeinsam mit 38 Städten und Gemeinden Mittelsachsens, des Zwickauer Landes und des Erzgebirges, dem schicken Titel gerecht werden. Man teilt ihn sich mit Nova Gorica in Slowenien und Gorizia in Italien. Im Vorfeld konnte Chemnitz, das 1953 bis 1990 den stolzen Namen Karl-Marx-Stadt trug (Wahlkreis von Erich Honecker), andere grausliche deutsche Städte ausstechen, darunter Dresden, Gera, Hannover, Hildesheim, Magdeburg, Nürnberg und Zittau. Nun will sich die Kommune samt seiner etwas mehr als 250.000 Einwohnern kulturell in Höchstform bringen. Leider kommt man etwas schwierig hin, denn es holpert nur alle Stunde eine Regionalbahn von Leipzig Richtung Chemnitzer Bahnhof. Mehr hat die Bahn nicht zu bieten.

Die Gäste, die den Weg nach Chemnitz finden, will man nicht enttäuschen. Gar zu jugendlich darf man nicht daher kommen, deshalb hält eine etwas reifere Generation das Ruder fest in der Hand: Programmchef Stefan Schmidtke ist 56 Jahre alt, Projektkoordinatorin Julia Naunin auch schon 50, und Andrea Pötzsch, die Leiterin der Villa Esche, wo man mit besonderen Ausstellungen punkten will, zählt 60 Lenze.

Doch das Programm, das die Welt in die sächsische Metropole locken soll, ist kaum fertig, da schiebt das Rathaus auch schon ein Maßnahmenpaket an, das ein großes Loch im städtischen Haushalt stopfen soll. So werden beliebte Freizeiteinrichtungen geschlossen, darunter Wildgatter, Freibäder und Hallenbad. Dem Frauenzentrum »Lila Villa« wird der städtische Zuschuss gestrichen, und für die Museen sind kürzere Öffnungszeiten geplant. Eingespart werden soll auch bei der Straßenreinigung und beim Winterdienst, Angebote für Kinder und Jugendliche kommen ebenfalls um Kürzungen nicht herum, und selbst der Bus- und Straßenbahnverkehr wird eingeschränkt.

All diese Streichungen sind freilich mit dem 18. Januar vergessen, denn dann beginnen sie, die großen Projekte, die Kunstausstellungen, die Festivals und Konzerte. So will man im Stadtgebiet Hunderte Apfelbäume pflanzen, und die Porzellankünstlerin Uli Aigner aus Österreich verhandelt mit ihrem Projekt »One Million« die Globalisierung. Dazu gibt es den Kunst- und Skulpturenweg »Purple Path«, der beteiligte Kommunen im Umland miteinander verbindet.

Natürlich ist ein Abstecher zum monumentalen Karl-Marx-Kopf, liebevoll »Nischel« genannt, Pflicht. Auch der Kaßberg, das größte Gründerzeit- und Jugendstilviertel Europas, ist einen Besuch wert, und wer sich die Architektur der DDR vergegenwärtigen möchte, muss sich das Wohngebiet »Fritz Heckert« erwandern. Hier kann man erahnen, wie eine sozialistische Musterstadt aussah.

Das Industriemuseum Chemnitz bedient sich bei John Cage, man orientiert sich am »Museumcircle« von 1991. Über 30 Museen der Stadt zeigen typische Stücke aus den eigenen Beständen. So kann ein expressionistisches Kunstwerk neben einem Trabantauspuff stehen oder erzgebirgische Volkskunst neben ausgestopften Tieren. Im Rahmen dieser Ausstellung finden auch außergewöhnliche Konzerte statt, mit der Micro Oper München, Auditivvokal Dresden und 30 Pianisten, die Erik Saties »Vexations« aufführen.

Also auf nach Chemnitz, in der Stadtinformation das Programmheft eingesteckt und ein T-Shirt mit dem »Nischel« gekauft. Die junge Welt wird die Aktivitäten der Kulturhauptstadt aufmerksam verfolgen.

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (4. Februar 2025 um 14:53 Uhr)
    Der Stolz der Stadt Chemnitz auf den Titel »Kulturhauptstadt «hat nicht nur die Glanzseiten, die seit Wochen durch die Medien gehen. Warum sollte sich eine gekürte Kulturhauptstadt gerade in Zeiten faschistischer Unkultur sich nicht geschichtsbewusst zeigen über einige formale Floskeln hinaus? Gelegenheiten und Möglichkeiten dazu ließen sich ganz bestimmt finden. Neben dem »Nischel« hat die Geschichte der Stadt bestimmt Menschen, Zeitzeugen, die zu Faschismus und Krieg, dem Aufbau nach dem Krieg mehr zu erzählen hätten.
    Antifaschistische und Antikriegskultur haben nicht erst mit der Umbenennung der Stadt begonnen. Wie vielsagend ist die kulturelle Würdigung und Ehrung der Stadt vor dem Hintergrund der Naziumtriebe von 2018, die Jagd auf Ausländer, wenn wir gerade erleben, wie deutsche Politik das Thema Migration menschenverachtend in Gesetze presst bis zu Bildern und Geschehen in der Stadt, die dem Aufzug und Demonstration faschistischer Kräfte im Angesicht des Bundespräsidenten nichts entgegenzusetzen vermag, was vor Tagen in Berlin ganz anders aussah. Da kommt die Frage zwangsläufig auf, welche Kultur greift in Land und Stadt zunehmend um sich? Nur gut, die Stadt trägt nicht mehr den Namen eines Deutschen, den Chemnitzer nicht mehr wollten. Auch das Kultur- und Geschichtsbewusstsein eher nicht zum Vorzeigen und Feiern. »Unsere Besten«, eine wahrscheinlich wegen Marx umstrittene ZDF-Show bekam in Umfragen 2003 das Ergebnis, dass dieser Marx nach Adenauer und Luther auf Platz drei kam. Was aus dem »Nischel« doch an Geist und Verstand geflossen ist, muss mehr sein, als es Chemnitzer Kultur von sich gibt. Die Stadt hätte sich einige Köpfe verdient, mit ein wenig Geist ihres geliebten oder verfluchten »Nischels«. Beinahe beschämend für eine Kulturhauptstadt, wenn an manchen anderen Orten und Städten Deutschlands und der Welt der Geist und Schaffen des Karl Marx höchste Würdigung genießt.
    Eine große kulturelle Leistung war die Umbenennung keineswegs.

Regio:

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