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Aus: 30. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz, Beilage der jW vom 29.01.2025
RLK 2025

Die herrschende Klasse ist antihuman

Über künstliche Intelligenz als Neuformierung der Ausbeutung
Von Dietmar Dath
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Dietmar Dath spricht über künstliche Intelligenz und Ausbeutung

Im neunzehnten Jahrhundert war »der Weltmarkt« eine Propagandaformel wie heute »Artificial General Intelligence«, AGI – die Mächtigen sagen: »Wenn DAS mal da ist, dann war alles richtig, was jetzt passiert, Produktion, Handel, Kriegführung«, lauter grauenhafte Methoden, auf die sich die besitzenden Klassen einigen können.

Jetzt ist der Weltmarkt Realität. Und der Militarismus, dessen Anfänge Luxemburg und Lenin beschrieben und analysiert haben, damals bereits als Instrument, jenen Weltmarkt herzustellen und wenn möglich zu regieren, verhält sich marktgemäß: nach Angebot und Nachfrage. Die Scholz-Rede von der »Zeitenwende« im Februar 2022 war so ein Angebot, die Nachfrage dazu findet sich in NATO-Gutachten, die bei der Durchmusterung von Verlautbarungen der Europäischen Kommission und der europäischen Realität zu der Ansicht kommen, das digitale Ökosystem für einen wehrtüchtigen KI-Betrieb sei auf der hiesigen Atlantikseite unterentwickelt: Cloud, 5G, Halbleiterproduktion, Talentförderung, Public Private Partnerships und Finanzmarktmaßnahmen.

Wer wen?

Mit Lenin fragt man da am besten: »Wer wen?« Die Chronik beantwortet das: 2017, Open-AI ist noch kein profitorientierter Laden, da veröffentlichen Leute von Google die Transformer-Architektur, die unter anderem in Chat-GPT steckt. 2019, der Non-Profit-Status von Open-AI wird aufgegeben. 2022, Zeitenwendejahr: Open-AI haut sein berühmtes Produkt raus, Chat-GPT.

Und 2021, just zwischen einerseits dem Moment, als Open-AI sich am Markt-Startblock positioniert, und andererseits dem Start des berühmten Produkts, stellt sich Lenins »wer wen?« in Zahlen klar dar: die staatliche, aber zivile, also auf Gemeinwohl statt auf Massenmord verpflichtete Forschung der USA gab in diesem Jahr für KI 1,5 Milliarden US-Dollar aus, die Europäische Kommission immerhin noch eine Milliarde, aber private Unternehmen ließen 340 Milliarden springen. Wer wen also? Na: Die durchfinanzialisierte Privatwirtschaft das staatlich schwach gegen deren Privatinteressen vertretene Gemeinwesen.

KI ist, wie das Internet, eine Maschine, die Menschen äußerlich-formell verbindet, aber dem sozialen Inhalt nach spaltet. Die alte Fabrik trennte den Handwerker von seinem Leisten, verband ihn aber als frischgebackenen Lohnarbeiter dialektischerweise auch mit anderen seinesgleichen und schuf so die Option der Aktionseinheit. KI eignet das menschenproduzierte Wissen an und stellt es unter Löschung der Menschenquellen, die es unsichtbar macht – niemand sieht, wer die Trainingsdaten erzeugt hat –, anderen Menschen zur Verfügung, als strukturfunktional antisolidarische Arbeitseinrichtung. Privateigentum in der Produktion zielt aufs Koordinationsmonopol, derzeit befeuert von Wagniskapital. Selbst die CIA hat eine Risikoinvestitionsfirma genau dafür, die in Feinabstimmung mit Partnern wie Microsoft wendige Startups zu ambulanten Forschungs- und Entwicklungsläden zurichtet. Keine demokratische Kontrolle findet statt, die Startups sind unmittelbar Finanzdrohnen, polit-ökonomische Vettern der sogenannten autonomen Waffensysteme, die vom Internationalen Roten Kreuz hilfreich definiert wurden als Geräte, die selbständig Ziele suchen und sie ohne akute menschliche Anordnung angreifen. Eine Zäsur: »Ich habe nur Programme laufen lassen« ist ethisch noch ruinöser als: »Ich habe nur Befehle befolgt«. Genau so etwas meint diese Veranstaltung hier heute in Berlin mit »Niedergang« des Imperialismus: Dass er für Menschen immer weniger als Lebensweise taugt.

Barack Obama hat diesem Niedergang viele Türen geöffnet, zum Beispiel den Drohnenterror seines Vorgängers, des Irak-Schlächters George W. Bush, entschlossen verzigfacht. Obamas Weißes Haus war technophil, Typen von Apple und Google gingen da so munter ein und aus, dass die Obama-Regierung in den US-Medien schon spaßhaft die »Android Administration« genannt wurde, nach dem Google-Betriebssystem.

Zwei Seiten, eine Medaille

Wer wissen will, was die Erwachsenen, während die Medien witzeln, ernsthaft vorbereiten, sollte sich mit Leuten wie ­Jacob Helberg befassen, der zwischen 2016 und 2020, also während Trumps Amtszeit Nummer eins, bei Google für »international global product policy efforts to combat disinformation and foreign interference« zuständig war. Auf dem Cover seiner 2021 erschienen Kampfschrift »The Wires of War« kämpfen ein Adler und ein Drache um Kabel, das heißt: die VR China und die USA um die Verfügung über die lebendige Arbeit insgesamt, an die ohne digitale Koordination kein Monopol und kein Staat, kein Kapitalismus und kein Sozialismus mehr rankommen werden, ob per Homeoffice oder in Fabrikarbeit.

Offizielle US-Politik spielt hier hinein seit spätestens 1996, als Präsident Bill Clinton sich dafür entschied, Silicon-Valley-Kapital frei nach allem greifen zu lassen, was es haben will. Der Gegner waren damals nicht Gewerkschaften oder der Deep State, sondern mittelgroße Anteilseignerinnen und Anteilseigner von Digitalfirmen, die in Kalifornien ein Gesetz forderten, das ihnen juristische Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten gegen die Vorstände bereitstellen sollte. Clinton war erst dafür, dann gab eine Koalition der Techunternehmen vierzig Millionen US-Dollar für eine Gegenkampagne aus, und Clinton legte sich in den neuen Rückenwind, das heißt, er riet bei der Abstimmung, das Gesetz zu verwerfen, es sei »schlecht für die Wirtschaft«.

Nur wer »Republicans« und »Democrats« für etwas anderes hält als zwei Seiten desselben Aktienzertifikats, kann das damals erfundene Muster heute nicht wiedererkennen im Geknutsche von Trump mit Musk, wie lange es auch halten mag. Die Figuren sind austauschbar.

Diese Austauschbarkeit, von der nur Inszenierungen noch ablenken, ist der Wellenkamm einer Flut der Dequalifizierung. Die Leute werden immer ungelernter, in Wirtschaft wie Politik.

Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Fundamente kollektiver Selbstregierung sein könnten, werden aus der Produktion geschwemmt. Statt dass »polytechnische Allgemeinbildung« organisiert würde, für Marx eine allgemeine Voraussetzung demokratischer Planung, verblöden jetzt auch die paar, die der Masse bislang Kenntnisse voraushatten. Deshalb macht dann im Physik Journal, der Zeitschrift der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, ein Physiker seine Sorge darüber publik, dass die Jugend so schlecht lernt. Wenn du Kindern sagst, es gibt gute Intelligenzjobs mit Altersvorsorge, dann lernen die alles, Corioliskraft, Friedrich Schiller oder Dreisatz, menschliche Neuroplastizität ist was Herrliches. Wenn du dagegen die guten Plätze in der Galeere streichst, stieren stumpfe Sklavenaugen auf die Smart-Watch-Handschellen, während im Hintergrund Erich Runge, DPG-Vorstand für Bildung, dem genannten Physik Journal aufschreibt, dass es doch effizienter wäre, die Studierenden der lästigen Pflicht zu entheben, außer in Gleichungen auch noch in ganzen Sätzen mitzuteilen, was sie wissen. Hauptsache, sie können rechnen, so sorgt sich Runge mehr wegen fachlicher Verdummung als wegen sprachlicher.

Wissens- und Befehlsketten

Tja, aber wenn die Fachleute nicht mehr sprechen können, wer, außer eben Fachleuten, kann dann etwa beim Thema Wärmepumpe noch informiert mitreden und muss nicht einfach fressen, was Wirtschaftsminister Robert Zwieback von der Weltbeglückungspartei auf den Tisch stellt, genauso alternativlos, wie man ohne Überblick in Sachen Krieg und Frieden fressen muss, was demselben Mann zur Erhöhung des Wehretats einfällt? Auch der Wehretat findet im Physik Journal statt, bei Wolfgang Maier, Exhardwareentwickler für IBM in Böblingen, der dafür streitet, »die spürbare Tabuisierung militärischer Forschung (zu) überdenken«. Deutsche Physik an die Front!

Die Lieferkette des Wissens wird zur Befehlskette.

Schlimmer noch: Die Epoche, in der die Wertverwertung ihre Lieferketten als verstehbare Kausalketten aufzog, weicht einer Ära der Wahrscheinlichkeitsverteilungen, die nur die Rechenleistung noch kalkulieren kann, die den Monopolen jetzt zuhanden ist.

2017 haben ein paar smarte Leute von Google, ich erwähnte es schon, mit dem Text »Attention is all you need« einen Großtriumph der KI lanciert, die Transformer-Architektur, worin eine sogenannte Self-Attention bei jedem Rechenschritt den Zugriff auf alle anderen Schritte regelt. Für uns Menschen steckt darin der Horror, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Automaten wächst, während unsere eigene von Teams-Nachrichten, Pushmeldungen und Kaufempfehlungen zerschossen wird, von Geräten her, die unsere ständige Verfügbarkeit garantieren sollen. Die Monopole begnügen sich nicht mehr mit Schweiß und Blut, sie saugen uns die Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit aus dem Leib.

Produziert wird dabei nicht mal überwiegend Luxus für ein paar lustige Schmarotzer, sondern Ramsch und Schund: Suchalgorithmen zum Beispiel finden Gesuchtes heute oft viel schlechter als noch vor zehn Jahren, weil es denen, die sie entwickeln und betreiben, nicht mehr drum geht, Spezial- und Nischenmärkte zu erobern, sondern um den Absatz von Ladenhütern, Müll. Die Antwort des Kapitals auf die Schrottstruktur dieses Geschäftsmodells ist dieselbe wie in jeder Krisenrunde: Schluss mit Diskussionen, »die Wirtschaft« ist in Gefahr. Das IT-Kapital hat den geschichtlichen Lernweg der Bourgeoisie von liberaldemokratischen Anfängen zum autoritären Monster im Zeitraffer nachgeholt.

Für den Umgang mit den Massen gilt jetzt auch im Silicon Valley, was die Heritage Foundation sich mit ihrem »Project 2025« als Konzeption für Trumps zweite Amtszeit ausgedacht hat: keine Moderation mehr, sondern Klartext. Der Ober-Tech-Bro Peter Thiel bespricht sich also mit Curtis Yarvin, der eine faschistoide Verwaltungslehre vertritt, in der das Gemeinwesen insgesamt Privateigentum ist, Profit Center für den Vorstand.

Denen, die kein Kapital haben, hilft da kein Bündnis mit irgendeiner imaginären »vernünftigen Fraktion« der Bourgeoisie. Wer soll das auch sein? Elon Musk und Vivek Ramaswamy, die von scheinbar rein technokratischer Warte aus an der Schund- und Ramschproduktion herumnörgeln und etwa behaupten, Schund und Ramsch rührten daher, dass zuviel Regierungsfilz alles bremst, was geniale Ideen hat, deuten manchmal obendrein eine Pseudokapitalismuskritik an, die lehrt, dass überall diese dummen Krawatten säßen, mit dem Abschluss MBA, Master of Business Administration, die von nichts irgend was verstehen, bei Intel, bei Boeing, bei Disney, nur noch an Kursen interessiert, nicht an Waren und Dienstleistungen.

Von Musk und JD Vance und Ramaswamy und Thiel und Yarvin und Konsorten wird suggeriert, dass man statt Business-Volldeppen und Deep-State-Intrigenbeamtenschaft endlich mal technische Genies ranlassen müsse, die gleich auch noch was von Geld verstehen. Das sind aber eben auch alles Idiotinnen und Idioten, diese Genies, weil es keine gebrauchswertorientierte Intelligenzausbildung gibt, siehe einerseits das »Physik Journal« und andererseits die Forschungsabteilungen der Firmen mit ihrem Ramsch und Schund. Aber selbst wenn die Genies wüssten, was sie tun: Das Programm »folgt alle den Riesenhirnen« kann nie das Ausmaß an Massenloyalität stiften und stabilisieren, das im alten, sozialdemokratisch angemalten kapitalistischen Modell der Spruch stiftete: »Auch aus dir kann noch was werden, und sei’s bloß ein zufriedener Mensch, Dank Chancengleichheit und Breitenbildung.« Alle wissen, das Großkapital hat daran kein Interesse mehr. Alle wissen, es will durchregieren. Also woher die Massenloyalität nehmen?

Die Antwort der Stunde: »Populismus«.

Das heißt: Wir behaupten einfach, unser Autoritarismus antworte auf eine Nachfrage.

Okay, nehmen wir mal einen Wirtschaftszweig, den ich kenne, die Medien. Deren Kundschaft versteht davon, wie Nachrichten zustandekommen, infolge der klickzahlengetriebenen Verflachung des Angebots gerade noch so viel wie das Schoßhündchen von der Lebensmittelchemie. Wenn man dem Tier genug Schokolade hinstellt, frisst es sich tot.

Dagegen ist kein Kraut des bürgerlichen Humanismus gewachsen. Den hat man das letzte Mal groß beschworen, als Michail Gorbatschow von den »allgemeinmenschlichen Problemen« Umwelt und Frieden redete, derentwegen man den Weltklassenkampf zurückstellen sollte. Der Hauch von Sinn an dieser Irrlehre war die Einsicht, dass eine zerstörte Biosphäre weder einen Kapitalismus noch einen Sozialismus tragen kann, und dass sich ein Atomkrieg nicht so nutzen lässt, wie die Bolschewiki den Ersten Weltkrieg genutzt haben, nämlich mit der Parole: »Arbeiter, Bauer, du bist jetzt bewaffnet, wende deine Waffen gegen die Befehlshaber!«

Redet man jedoch die Ausgebeuteten und Unterdrückten so an, als hätten sie mit denen, die ihnen das antun, immerhin doch gemeinsam, dass sie alle Menschen seien, so erzählt man ihnen Geschichten vom Pferd, und dann wundern sie sich über die Überschallrakete.

Das Monopolkapital verhält sich nicht menschlich.

Offensive der Monopole

Der neueste Faschismus organisiert in den USA wie hier etwas aus lauter produktionsverhältnishalber in die Asozialität hinein atomisierten Menschen, das er »Volk« nennt, und benimmt sich so komplementär zu gewissen links gedachten Identitätspolitiken, die nach Lage der Dinge nur eine defensive Kräftebündelung sein können.

Da fragt sich: Wie kann man gegen die Zerfallsdynamik und ihre harte Partikularisierung heute Gegenkräfte auf eine Art wecken und bündeln, die nicht zur Verausgabung in absurden Angriffen und tragischen Verteidigungsgefechten führt? Mit Visionen von technischen Mitteln für Solidarität und Sozialismus?

Man könnte sich hier auf Studien berufen, die davon handeln, dass und wie das Erlernen einer Fremdsprache durch an einzelne Nutzerinnen und Nutzer eines KI-Systems angepasste Übungen nicht nur beschleunigt, sondern auch vertieft wird, was der Solidarität zwischen ansonsten gegeneinander Ausgespielten sicher zugutekommen könnte. Oder man fragt: Was tun wir für Leute, deren Arbeit durch Automatisierung zu einer Zeit abgeschafft wird, in der fast nur von der kapitalistischen Warenproduktion erzeugte und erprobte Produktionsverfahren da sind und man vielleicht auch nicht sofort ohne Geld auskommt, selbst wenn sich die Machverhältnisse ändern. Wenn der sozialistische Staat als Planungsbüro und Instanz der Verrechnung bei irgendeiner Arbeit anstelle eines Menschen eine KI einsetzt, dann muss dem Menschen das in dieser Lage eben vergütet werden, als hätte er ein Patent auf diese Tätigkeit, das ist so ein Einfall, auf den Leute kommen, die viel Ronald Coase gelesen haben, das ist ein bürgerlicher Ökonom, der Menschen anregt zu dieser ganz witzigen Variante der Enteignung der Enteigner, und dafür bietet sich das Werkzeug einer relativ stabilen Buchführung von Lizenztransaktionen in der Blockchain via KI an, als Gedankenspiel.

Sofern es aber die mächtige soziale Kraft nicht gibt, die aus solchen Einfällen neue Verhältnisse macht, können wir das vergessen. Und wenn es sie gibt, dann will man doch wissen: Ist KI etwas, das sie beim Kampf hemmt oder zum Kampf aufreizt?

Ich meine hier nicht KI »als Technik« an sich, sondern KI als, wie ausgeführt, reale technische Vermittlungsform einer Offensive der Monopole gegen die lebendige Arbeit. Nochmal: Die Fabrik hat Leute zusammengezwungen und damit gewisse Formen des Kampfes ermöglicht, aus Sicht des Kapitals eine unerwünschte Nebenwirkung. Die vergleichbare Chance, die in der KI-Offensive steckt, ist die Verkürzung von Lernwegen: In Zeitraffer erleben jetzt alle, dass die private Aneignung kollektiver Arbeit denen, die da arbeiten, das Leben abschnürt. Das ging los mit dem Aufsaugen von Daseinsfürsorge und Altersvorsorge durch Finanzmärkte, deren Transaktionsgeschwindigkeit sich per Computer unfassbar beschleunigt hatte. Das ging weiter mit der freiwillig-unbezahlten Datenarbeit zur Verbesserung der proprietären Algorithmen in den sozialen Netzwerken. Und jetzt geht es der Kopfarbeit an den Kragen. Der Monopolismus frisst Gesellschaftliches und verdaut es zu Privatscheiße.

Mensch oder Rohstoff?

Nach kundiger Schätzung wird schon 2028 der Trainingsmaterialhunger von KI das online öffentlich zur Verfügung stehende Material komplett verschlungen haben.

Das Internet, als Erfindung einst öffentlich finanziert über zivile und militärische Forschung, wird leergefressen. Ein Chefdenker für Mark Zuckerbergs Meta-Konzern namens Yann LeCun hat ausgerechnet, dass die zehn hoch dreizehn Tokens, die so ein Large Language Model (wie es uns Chat-GPT beschert hat) fürs Training verschlingt, einer Textmenge entsprechen, an der ein Mensch hundertsiebzigtausend Jahre rumlesen müsste, um sie aufzunehmen. Aber ein vierjähriges Kind hat in seinem Leben ohne Lesen fünfzigmal soviel mitgekriegt von der Welt.

Okay: Die Maschinen der herrschenden Klasse werden das Internet leerkratzen, und dann? Glaubt irgend jemand, dass sie vor dem vierjährigen Kind haltmachen, vor seinen Bildungschancen, seinen Lebensaussichten, wenn in denen etwas steckt, was sie haben wollen? Glaubt das irgendwer, wo doch diese Klasse in gewissen Gegenden dafür gesorgt hat, dass es die Personenverwaltungskategorie »Wounded child, no surviving family« (WCNSF) gibt?

Was KI (zusammen mit allen anderen Werkzeugen und Methoden des größten Raubzugs im menschlichen Lebens- und Denkvermögen aller Zeiten) zum Aufbau einer anderen Gesellschaft beiträgt, das ist die Klarheit, mit der sie uns lehrt: Humanismus geht nicht mehr als Idee »oberhalb« der Klassen, wie das die Bourgeoisie einst erzählt hat, in ihrer politischen Jugend, im späten 18. Jahrhundert, als sie in Frankreich und Amerika an die politische Macht kam. Diese Bourgeoisie hat jeden Humanismus verraten, nur im Kampf gegen sie gibt es einen. KI kann manche unserer Fragen beantworten, aber sie stellt vor allem selbst eine Frage: Wollen wir Menschen sein oder Rohstoffe?

Dietmar Dath ist Schriftsteller und Journalist. Von ihm erscheint demnächst im Berliner Verlag Matthes und Seitz der Roman »Skyrmionen oder: A fucking Army«.

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