Erfindungen mit Zerstörungskraft
Von Kristian Stemmler
Die Grünen hatten übers Wochenende versucht, die Affäre um die mutmaßliche Intrige gegen den Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar nicht zum bundespolitischen Thema werden zu lassen. Aber das hat nicht funktioniert. Der Skandal um die mindestens teilweise erfundenen Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Gelbhaar, die augenscheinlich gezielt im Zusammenhang mit der Aufstellung der Landesliste plaziert wurden, zieht immer größere Kreise und wird zur Belastung für die Partei im Bundestagswahlkampf. Am Dienstag erklärte der frühere Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu, wie Gelbhaar aus Berlin, seinen Parteiaustritt und übte in einem offenen Brief, den die Berliner Zeitung veröffentlichte, scharfe Kritik an dem Landesverband. »Intrigen, Machtspiele und eine eklatante Fehlerkultur« hätten die Grünen zu einer Organisation gemacht, »die meine Überzeugungen und Werte nicht länger repräsentiert«, konstatierte Mutlu in dem Schreiben.
Am Montag nachmittag hatten sich – nach einer Wortmeldung von Kanzlerkandidat Robert Habeck, der von einem »schockierenden« Vorgang sprach und »rücksichtslose« Aufklärung verlangte – die beiden Kovorsitzenden der Bundespartei zu Wort gemeldet und erklärt, die Partei wolle Strafanzeige erstatten wegen der mutmaßlichen Falschaussage gegen Gelbhaar. Es gehe um ein Verhalten, »das von krimineller Energie und Niedertracht geprägt ist«, erklärte Felix Banaszak. So etwas habe bei den Grünen keinen Platz. Vorwürfe anderer Frauen gegen Gelbhaar stünden allerdings nach wie vor im Raum, sagte er. Brantner teilte ergänzend mit, die Anzeige richte sich sowohl gegen eine konkrete Person als auch gegen Unbekannt.
Bei der Person, deren Namen von den Parteivorsitzenden nicht genannt wurde, handelt es sich dem Vernehmen nach um die inzwischen zurückgetretene und aus der Partei ausgetretene Vorsitzende der Bezirksversammlungsfraktion in Berlin-Mitte. Sie steht im Verdacht, Gelbhaar mit erfundenen Bezichtigungen belastet zu haben. Gegen Gelbhaar, Mitglied des Grünen-Kreisverbands Berlin-Pankow, standen seit Mitte Dezember Belästigungsvorwürfe im Raum, die er bestreitet. Als Direktkandidat in Pankow wurde Gelbhaar ersetzt; bei der Aufstellung der Landesliste verzichtete er auf eine Kandidatur. Davon profitierte Habecks Wahlkampfmanager Andreas Audretsch, der sich wie Gelbhaar ebenfalls um Listenplatz zwei bewarb. Audretsch hat bereits erklärt, »mit dem gesamten Vorgang nichts zu tun« zu haben.
Habeck äußerte sich am Dienstag bei einer Veranstaltung des Handelsblatts erneut zu der Sache. Die mögliche Intrige gegen Gelbhaar habe in mehrfacher Hinsicht Schaden angerichtet. Wer immer die erfundenen Vorwürfe in Umlauf gebracht habe, habe schwere Schuld auf sich geladen gegenüber den zu Unrecht Beschuldigten. Es müsse aber auch bedacht werden, dass vor allem Frauen einen Raum bräuchten, in dem sie Belästigungen ansprechen könnten.
Im Fokus der Kritik steht auch der RBB. Der Sender hatte auf Grundlage von eidesstattlichen Versicherungen von Frauen und anonymen Meldungen an die Ombudsstelle der Grünen, die er einsehen konnte, über die Vorwürfe berichtet, am Freitag dann aber wesentliche Teile seiner Berichterstattung zurückgezogen. Chefredakteur David Biesinger erklärte gegenüber dpa, dem Sender sei »in der Recherche ein Fehler unterlaufen«. Journalistische Standards seien »nicht vollumfänglich eingehalten worden«. Am Mittwoch will sich der Programmausschuss des Rundfunkrats, der den Sender kontrolliert, mit dem Thema befassen.
Özcan Mutlu kritisierte in seinem offenen Brief an die Grünen-Spitze, die aktuellen Vorfälle seien »kein isolierter Einzelfall«. Das Muster sei immer gleich: »Es wird mit Unterstellungen gearbeitet, die jeglicher Grundlage entbehren, deren Zerstörungskraft jedoch unwiderruflich bleibt.« Am Dienstag nachmittag berichtete Bild, dass das Landgericht Hamburg dem RBB die Verbreitung weiterer Aussagen untersagt hat. Bei zwei eidesstattlichen Versicherungen, die der Sender vorlegte, handele es sich laut Gericht um »völlig inhaltsleere Darlegungen«.
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Leserbrief von Hans Wiepert aus Berlin (23. Januar 2025 um 21:04 Uhr)Ein aus dem Ruder gelaufener Extrem-Feminismus stellt sich gegen das Rechtsgut der Unschuldsvermutung. Ganz genauso, wie die AfD Zuwanderer als »Messermigranten« unter Pauschalverdacht stellt. Es ist kein Zufall, dass Grüne und AfD hier sehr ähnlich wirken: Beides sind hochmoralisch aufgeladene Empörungs-Parteien, die ihre Probleme mit Differenzierungen und Graustufen haben.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Verena B. aus Berlin (22. Januar 2025 um 13:37 Uhr)Da haben doch niederträchtige Weiber »Erfindungen mit Zerstörungskraft« vorgetragen und einen unbescholtenen Mann um ein Haar zu Fall gebracht! Aus Karrieregeilheit! So wird die Erzählung reihum in den Medien kolportiert, auch jW. Bei derart altbekannten Bildern wird die Feministin hellhörig. Was ist die konkrete Anklage gegen die Frauen? Schweigen, auch seitens Kristian Stemmler. Bei meiner Suche finde ich: der Name einer Frau steht nicht an Klingel und Briefkasten ihrer Meldeadresse (!) oder die Frau ist dort gar nicht gemeldet, folglich »mit hoher Wahrscheinlichkeit« inexistent (!). Mit diesem bisherigen Inhalt lautet die Botschaft der kolportierten Erzählung: Männer haltet euch an Sans-Papiers-Frauen, die sind nämlich nie gemeldet und ihr Name steht nicht an Klingel und Briefkasten. Sie sind tatsächlich in erhöhtem Maß gefährdet. Eine frühere Meldung in jW berief sich auf »rechtsstaatliche Verfahren«, »Unschuldsvermutung« usw. (In anderen Zusammenhängen heißt es durchaus: Klassenstaat.) Feministinnen erklären seit einem halben Jahrhundert: Das »rechtsstaatliche Verfahren« garantiert die fast 100prozentige Straffreiheit der Vergewaltiger. Darum die feministische Alternative, auf Wände gesprüht, auf Demonstrationen vorgetragen, rund um die Welt: »Ich glaube dir, Schwester.« Sollten wir die Wahrheit im Fall Gelbhaar je erfahren, so ist die Botschaft der kolportierten Erzählung längst verbreitet: mit der feministischen Alternative landen wir in den »Erfindungen mit Zerstörungskraft«! Verena Bosshard, Antimilitaristin, keine Anhängerin der Grünen
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (22. Januar 2025 um 17:16 Uhr)Was nützt es, auf die Splitter im Auge der anderen zu verweisen, wenn es bei dieser so honorablen Partei ganze Wagenladungen davon gibt? Dort ging es nie um den Kampf für die Rechte der Frauen, es ging fast immer nur um den Kampf um die Macht. Auf dem Weg von der Friedenspartei zur Rüstungs- und Kriegsbejahung. Übrigens: Der von den Grünen jetzt so beförderte Krieg würde alle unterschiedslos treffen. Der Asche der Toten würde man nicht mehr ansehen, wer statt des Kampfes gegen den Krieg lieber den Kampf der Geschlechter führte.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Verena B. aus Berlin (23. Januar 2025 um 13:51 Uhr)Sogar diese Unterschiedslosigkeit entspricht nicht der bekannten und historischen Realität. Frauen und Mädchen werden in ganz anderer Schärfe von Krieg getroffen, ohne dass Männer deswegen verschont würden. Falls das wichtig ist: sogar in der Zurichtung der Leichen. Kampf gegen Imperialismus und Krieg hatte für uns internationalistische Feministinnen schon immer hohe Priorität, wie auch heute wieder – in meiner Generation immer in Verbindung mit dem Kampf gegen Männergewalt. Jede Variante des entweder–oder ist ein Irrweg, denn das kapitalistische Patriarchat ist an einem Stück. Verena Bosshard
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (21. Januar 2025 um 22:00 Uhr)Wer war's? Roland Habeck oder Robert Koch? Also der mit der brutalst möglichen oder rücksichtslosesten Aufklärung. Die innere Verkommenheit der Grünen korrespondiert mit ihrer äußeren Un- oder Doppelmoral (gleiche Werteorientierung drin wie draußen …). Zur Frage der Rolle der öffentlichen (öffentlich-rechtlichen) Medien möchte ich mich nicht weiter äußern. Wahrscheinlich würde eine KI das Loch, das sie hinterließen, vollständig ersetzen.
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