Zwei von sechs Millionen
Von Ingar SoltyLudwig Ruschin wird am 10. März 1898 in Żnin geboren, einer Kleinstadt 30 Kilometer südwestlich von Bromberg. Er geht zunächst in die Lehre als Bank- und Getreidekaufmann. Im Ersten Weltkrieg kämpft er in der deutschen Armee. (Noch 1937 wird er eine Gedenkfeier des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten besuchen.) Nach dem Krieg heiratet Ruschin eine Vollwaise aus Hohensalza (Inowrocław). Am 7. April 1921 kommt das erste gemeinsame Kind zur Welt, eine Tochter: Rose-Ruth. Am 1. September 1924 wird Günther geboren, das zweite und letzte Kind des Paares. Die Familie zieht in die Boxhagener Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Spätestens ab 1925 und bis mindestens 1931 ist Ruschin in Berlin als Kaufmann registriert. Zusammen mit seinem anderthalb Jahre jüngeren Bruder, dem ebenfalls in Żnin geborenen Oscar Ruschin, ist er schon länger in der jüdischen Gemeinde aktiv. 1932 wird Ruschin Kantor beim Rabbiner und späteren Holocaustüberlebenden Dr. Arthur Rosenthal. Die Diskriminierungen, die Juden seit dem 30. Januar 1933 erleiden, führt zunächst dazu, dass die Zahl der aktiven Gläubigen wächst. Auch Ruschin kommt zu dem Schluss, dass man auf die Drangsalierungen am besten mit Rückzug in Familie und Gemeinde reagiert.
Etwa zu dieser Zeit zieht die Familie in die benachbarte Kopernikusstraße. Ruschin ist jetzt als »Kantor und Lehrer« gemeldet und im Berliner Adressbuch verzeichnet. Als die neue Synagoge in der Frankfurter Allee 56 – auf der Höhe des heutigen Neubaus 36b – eröffnet wird, sind 600 Mitglieder anwesend. Im Bundesarchiv findet sich ein Exemplar des 1912 erschienenen »Liederbuch: Sammlung hebräischer und deutscher Lieder für Kindergarten, Volks- und höhere Schulen«, das aus Ruschins Besitz stammt. Er wird der letzte Kantor der Lichtenberger Synagoge bleiben. Ruschins Frau Bella, geboren am 19. März 1899, arbeitet als Hausfrau, sie stirbt im September 1938 »nach einer zweiten Operation«. Seine 1902 in Berlin geborene zweite Ehefrau Margarete ist eine geborene Meyer. Die Kinder erleben in der Schulzeit den aufsteigenden Faschismus. »In der Schule«, wird Günther 1997 in einem Interview der drei Jahre zuvor von Steven Spielberg gegründeten Schoah Foundation berichten, »hatte ich eigentlich niemals Schwierigkeiten mit Lehrern oder Antisemitismus. Aber es war ja noch nicht 1933. Mein Lehrer, ein Herr Adrian (…) kam 1932 in SA-Uniform zur Schule. Aber die jüdischen Schüler waren die besten, und die haben nie von ihm irgendwelche Schwierigkeiten bekommen. Meine Hefte hat er als Musterhefte behalten.« Tochter Rose-Ruth wird dagegen nach 1933 wegen »Führerbeleidigung« von der Auguste-Viktoria-Schule geworfen. Mitschüler oder Lehrer sind zu ihr mit einer Sammelbüchse »Für die Einbahnstraße nach Jerusalem« gekommen, woraufhin sie gesagt habe, sie könne »nichts geben«, der »Vater hat im Augenblick keine Arbeit«. Rose-Ruth wird zum Rektor zitiert und der Schule verwiesen. Von da an besuchen die Kinder eine jüdische Schule.
Die Nazis nimmt Ludwig Ruschin dennoch nicht ernst genug. Er habe geglaubt, erinnert sich sein Sohn, dass er als Kriegsveteran und assimilierter Leistungsträger nicht von den Verfolgungen betroffen sein und die sich nur gegen die »Ostjuden« richten würden. Und mit der Zeit stellt sich ein Gewöhnungseffekt ein. »(I)m Großen und Ganzen« scheinen »die Zeichen, die sie vom Sommer 1935 bis zum Sommer 1937 umgeben, diese Ansicht zu unterstützen«, rekapituliert der britische Historiker Laurence Rees in »The Holocaust: A New History«. »Obwohl (…) weiterhin Verordnungen zum Ausschluss der Juden erlassen wurden – zum Beispiel wurde Beamten ab Oktober 1936 der Besuch jüdischer Ärzte untersagt –, gab es keine systematische Massengewalt gegen die deutschen Juden. Doch was viele als Zeichen der Beruhigung des Regimes ansahen, war lediglich eine Pause vor der Umsetzung radikalerer Maßnahmen. Ein Grund für die relative Untätigkeit des Regimes in Bezug auf die Juden in dieser Zeit war Hitlers Wunsch, den Erfolg der Olympischen Spiele 1936 in Berlin sicherzustellen.«
Reichspogromnacht
Entsprechend erschütternd wirkte die Reichspogromnacht am 9. November 1938 für die Ruschins. Am Abend geht Ludwig mit seinem 14jährigen Sohn in die Synagoge, sich ein Bild von den Verwüstungen zu machen. »Sämtliches Mobiliar«, erinnert sich Günther, »war zertrümmert. Aber die Tora-Rollen waren aus dem Schrein gerissen, aufgerollt. Die Verbrecher haben ihre Exkremente dort verstreut und damit diese heiligen Rollen (…) kaputtgemacht. Und mein Vater (…) hat an diesem Abend geweint. Und wir sind noch an seinen Schrank gegangen und haben noch verschiedene Noten mit nach Hause genommen, die Talare und, ja, es war nichts zu machen. Aber wenn man das gesehen hat, da frage ich mich, was waren das für Menschen, die solche Frevel gemacht haben? Wie kann man auf dem Heiligsten, wenn es auch nicht zur christlichen Religion gehört, seine Notdurft verrichten (…)?«
Im August 1939 erhält Rose-Ruth, gerade volljährig geworden, eine Einreiseerlaubnis für England. Sie kann nach Cambridge gehen. Wegen des Todes der Mutter beschließt sie jedoch, ihren Vater und Bruder nicht allein zu lassen. So arbeitet sie als Kindergärtnerin im Jüdischen Säuglings- und Kleinkinderheim in der Moltkestraße (heute Wilhelm-Wolff-Straße). Eine zu DDR-Zeiten (1968) angebrachte Gedenktafel erinnert an die Einrichtung und die 150 Kinder und Säuglinge, die 1942 von der SS verschleppt wurden. Günther macht nach seinem Abschluss an der jüdischen Schule ab 1940 eine Schlosserausbildung in den Lehrwerkstätten der Jüdischen Gemeinde in der Holzmarktstraße. Später wird er sagen, dass ihm das das Leben gerettet hat, denn dadurch wird er später »als Facharbeiter in Auschwitz ausmarschier(en)«.
Im Januar 1942 planen die Nazis auf der Wannsee-Konferenz die »Endlösung der Judenfrage«. Zum 30. April schließen sie alle jüdischen Schulen, Lehrwerkstätten und andere Institutionen. Schüler und Angestellte werden in die Zwangsarbeit gepresst – auch Günther Ruschin. »Mein Vater«, erinnert er sich, »wurde (von der jüdischen Gemeinde – d. A.) sofort entlassen, mein Onkel (…) wurde im August 1942 von der Gemeinde freigestellt zur Zwangsarbeit.« Für 29 Pfennig die Stunde poliert der Kantor nun bei zwölfstündigem Arbeitstag Geschosshülsen, Günther wird als Schweißer eingesetzt. Sie beobachten die Ankunft polnischer Zwangsarbeiter, aber niemand habe »sich Gedanken gemacht, dass die uns ersetzen sollten«. Über die längst laufenden Deportationen sagt Günther: »(K)einer hat daran gedacht, dass da irgendwas passieren würde. Deportationen waren ab 1941. Aber das war gezielt. Ältere Menschen, und ich weiß nicht, wir hatten auch wenig Zeit, uns auf solche Dinge zu konzentrieren. Wir hatten kein Telefon mehr, wir durften nicht mehr fahren. Und so kam man auch mit den wenigen Verwandten, die hier waren, vor allen Dingen den Geschwistern meines Vaters, und da kam man nicht zusammen. Oder nur sehr wenig.«
Nach Auschwitz verschleppt
Am 27. Februar 1943, am Sabbat, holt die SS im Rahmen der sogenannten »Fabrik-Aktion« die jüdischen Zwangsarbeiter mit Lastwagen aus den Fabriken. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland ist wohl darüber in Kenntnis gesetzt. Günther wird, durch den »Judenstern« erkennbar, nach seiner Nachtschicht am Görlitzer Bahnhof in Kreuzberg von einem Zivilisten verhaftet, auf ein Polizeirevier gebracht, von Polizeibeamten mit der U 1 zum Halleschen Tor und dann mit der U 6 zur Kochstraße gefahren. Von hier aus überführt man ihn in ein Sammellager im Tanzlokal und Konzerthaus »Clou« in der Zimmerstraße Berlin-Mitte. Das Clou ist seit 1910 mit einer Kapazität von 4.000 Menschen das größte Tanzlokal Berlins. Hier hatten schon 1927 erste Massenveranstaltungen der NSDAP stattgefunden und nach 1933, in der Zeit der »wilden KZ«, haben die Nazis dort einen Verhörkeller für die Behandlung ihrer zahlreichen, vor allem kommunistischen Gegner eingerichtet. Im Clou, das kriegsbedingt geschlossen wurde und still liegt, ist alles vorbereitet. »Da standen Hochbetten. Und die Leute wurden dort einfach hineingedrückt. Und draußen war SS, die hat aufgepasst. Raus kam niemand, aber rein kamen sie. Das war wie ein Trichter oder wie ’ne Mausefalle (…). Und da wurden wir zusammengepfercht. Und ich muss sagen, es war grausam. Kleine Kinder, größere Kinder. Aber was mich damals so, ich will nicht sagen, empört hat, traurig gemacht hat, die Leute haben sämtliche Scham verloren. Frauen haben mit anderen Männern auf der einen Ecke gesessen, und nicht nur gesessen. Und auf der anderen Seite waren Männer, nicht mit ihren Frauen. Das Inferno haben sie gespürt, und das war noch einmal das Aufbäumen der menschlichen Psyche vielleicht. Aber es hat mir wehgetan.« Im Sammellager im Clou trifft Günther auf seinen Onkel Oscar, den man ebenfalls aus der Fabrik abtransportiert hat. Oscar war es geglückt, seine Frau Hilde noch zu erreichen, die dann mit Gepäck dazukam, weil man »der Meinung« gewesen sei, »es geht in ein Familienlager oder ein Sammellager, oder was weiß ich.«
Bei der Fabrik-Aktion sind insgesamt 8.768 Juden mit letztem Wohnsitz in Berlin verhaftet worden. Fast täglich fahren Deportationszüge nach Auschwitz. Am 2. März 1943 wird das Durchgangslager geräumt. Unter der Anleitung von Alois Brunner – einem SS-Mann, der nach dem Krieg nach Damaskus flüchten und von dort nicht ausgeliefert werden wird, »ein gut aussehender Mann mit schwarzem Anzug mit Nadelstreifen, einer randlosen Brille und einer Reitgerte in der Hand« – werden Günther, sein Onkel und seine Tante zusammen mit den anderen Gefangenen zum Güterbahnhof Putlitzstraße in Berlin-Tiergarten verfrachtet und von hier aus mit dem 32. Osttransport nach Auschwitz verschleppt. Beim Zwischenhalt in Frankfurt (Oder) bitten die Deportierten einige Passanten um Hilfe: »Gebt uns Wasser, wir sind durstig.« Die Antwort sei gewesen: »Was, ihr verfluchten Juden, euch hat man noch nicht totgeschlagen?« In Auschwitz angekommen, verliert Günther seinen Onkel aus den Augen, der »noch mal zu seiner Frau gelaufen war, um ihr einen letzten Kuss zu geben«. Hilde Ruschin wird in Auschwitz ermordet. Oscar überlebt den Holocaust, auch durch die Hilfe eines alten Kameraden aus dem Ersten Weltkrieg namens Peiser, dem er in Auschwitz als seinem Wärter wieder begegnet.
Bei der Ankunft in Auschwitz wird Günther als einer von insgesamt 894 Juden seines Transports, darunter 309 Frauen, registriert. Er bekommt die Nummer 105879 und wird nach Monowitz (Auschwitz III) gebracht, wo der Konzern IG Farben sein Zwillingswerk von Leuna errichtet hat. Hier trifft Günther auf dem Appellplatz seinen Vater (Auschwitz-Nummer 106549) und seinen Onkel (106034) wieder. »Und die habe ich zusammengebracht. Da haben die zwei gestandenen Männer, 43 und 45 Jahre … Die haben geweint, und ich musste erst mal ein bisschen auf die Schultern klopfen. Und wir haben zusammen sogar gearbeitet auf einem Kommando.« Im Lager erleben sie die Torturen: »Mein Vater, der hat irgendwie Diarrhö gehabt, und musste sich melden, er bittet, austreten zu dürfen. Das war denen nachher zu lang, und er hat ein paar Kolbenhiebe in die Nieren bekommen. Da hat er sich erlaubt zu sagen: ›Das ist der Dank des Vaterlandes‹. Na, also er ist malträtiert worden.«
»Dein Vater lebt nicht mehr«
Bei der gefährlichen Arbeit zum Aufbau des IG-Farben-Werks von Auschwitz, zu der später – bewacht und gequält durch deutsche BVer (Berufsverbrecher) und SVer (Sicherheitsverwahrte) – unter anderem das Schleppen von zwei 50-Kilo-Säcken Zement im Laufschritt gehört, verletzt sich sein Vater und kommt in den Krankenbau. »Ich habe ihn morgens noch gesehen am 30. März (…). Und am 30. März komme ich zurück, da gibt mir einer der Pfleger ein Stück Brot und ein Stück Wurst. ›Das hat dir dein Vater gelassen. Den hat man zum Röntgen nach Auschwitz gebracht.‹ Ich hab’s geglaubt. Mir fiel nicht ein, daran zu denken, dass er sein Brot weggibt. Da wusste er schon, worum es geht. Die selektierten Menschen, das hat der Dr. (Horst Paul Silvester) Fischer gemacht, den man vor kurzem oder vor mehreren Jahren in der DDR in Frankfurt (Oder) verhaftet hat und exekutiert hat, der hat ihn nach Auschwitz geschickt, in die Gaskammer.« Tatsächlich lebte Fischer in Golzow, er wurde 1965 von der Staatssicherheit der DDR entdeckt, zum Tode verurteilt und 1966 hingerichtet.
Der achtzehn und ein halbes Jahr alte Günther will sich ins Hauptlager Auschwitz I mitverlegen lassen, weil er bei seinem Vater bleiben möchte. »Da kam ein polnischer Junge, der war älter als ich, der war auch schon (…) ein Dreivierteljahr dagewesen. Er hat gesagt: ›Mach das nicht.‹ Sag ich: ›Ich will zu meinem Vater.‹ Sagt er mir ganz brutal: ›Dein Vater lebt nicht mehr, der ist vergast.‹ Sag ich: ›Das glaube ich nicht. Ich werde mich morgen melden.‹ Und ich habe noch nie solche Ohrfeigen bekommen wie in diesem Augenblick. Er sagte: ›Wenn du dich meldest, werde ich dich hier schlagen. Du wirst schon deine Meinung ändern.‹ Dann kam er: ›Mach das nicht.‹ Sehr, sehr lieb war er, hat gesagt: ›Dein Vater lebt nicht mehr. Willst du auch in die Gaskammer?‹ Sag ich: ›Na, das will ich nicht.‹ Also jedenfalls, es dauerte zwei Stunden. Zwischen Ohrfeigen und indem er mich wirklich anständig und menschlich behandelt hat. ›Gehe nicht.‹ Nun, ich bin nicht gegangen.«
Günther überlebt, weil er Facharbeiter ist. Die SS kassiert für jeden Facharbeiter eine Mark achtzig pro Tag von der IG Farben und der AEG. »Vielleicht muss ich noch erwähnen, dass wir Besuch hatten (…), wir waren hinterm Stacheldraht wie wilde Tiere. Und davor liefen die Direktoren und Ingenieure der IG Farben, die haben gelacht. Und da habe ich mir gesagt: ›Und wir sitzen hier hinter Gittern. Ihr lacht.‹ Und wir wissen ja, wie das ausgegangen ist nachher, das IG-Farben-Urteil. Die haben, weiß ich, zwei, drei Jahre gesessen, und dann sind sie rausgekommen.«
Am 18. Januar 1945, die Rote Armee steht bereits an der Weichsel, wird Günther mit dem »Lebendbestand von 350.000 Häftlingen (…) auf Transport geschickt. Und ich habe immer versucht, am Kopf der Kolonne zu gehen. Wenn man zurückbleibt, so blieb man nicht bis zum Ende zurück und kriegt nachher (eine)n Schuss, weil man nicht mitkommt. Und wir marschierten in 26 Stunden 63 Kilometer durch Schnee, der an die 60 Zentimeter hoch war. Und wir merkten nachher, dass die SS auch keine Helden sind, denn die hatten mit denselben Schwierigkeiten zu tun wie wir. Sie konnten auch nicht mehr. Und ich habe gesehen, wie man den armen Häftlingen (eine)n Rucksack gegeben hat. Selbst Waffen haben sie ihnen über, auf den Rücken geschnallt. Also jedenfalls, wir hatten zwei Stunden Pause in einer Ziegelei in Nikolai (Mikołów) und kamen gegen Abend an in Gleiwitz IV (Außenlager KZ Auschwitz) (…) Wir hatten 18 Grad Celsius unter null. Und dann hieß es auf einmal, wir sollen vorbeimarschieren an einer Gruppe von SS und Häftlingen und so. Und ich hatte einen wahnsinnigen Muskelkater (…). Und man hat immer Leute rausgenommen. Vielleicht hat man ihnen gesagt: ›So, ihr kommt, äh, mit Wagons werdet ihr transportiert.‹ Und haben wir gesehen, wie man die Leute bei Seite genommen hat und hörten nur noch Maschinengewehrfeuer, hat man sie exekutiert.«
Der Krieg ist vorbei
Günther gehört nicht zu den Ermordeten. Der Todesmarsch geht weiter, in Richtung Buchenwald. Einen Tag vor der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, am 26. Januar, gelangt er hierhin. Man bringt ihn in die Pferdebaracken, wo auch der spätere Schriftsteller Elie Wiesel untergebracht wurde, setzt ihn zur Entrümpelung des bombardierten Weimar ein. Durch die Hilfe des früheren badischen KPD-Landtagsabgeordneten Stefan Heymann, der hier, mit Unterbrechung in anderen Konzentrationslagern, seit 1933 gefangen sitzt, kommt Günther ins Außenkommando Schwalbe V in Berga an der Elster (Außenlager KZ Buchenwald), wo nach der Befreiung noch Stollen gesprengt werden, um unterirdische Fabriken zu bauen. Anfang Mai 1945 wird Günther von hier aus mit 1.450 anderen Häftlingen, darunter auch sein Onkel Oscar, auf einen Todesmarsch durchs Erzgebirge in die Tschechoslowakei geschickt. Als zwei von nur 190 KZ-Häftlingen überleben die Ruschins. Am 8. Mai, dem Tag der Kapitulation, bekommen sie von ihren teilweise ungarischen SS-Männern die »Entlassungspapiere« (unterschrieben von SS-Hauptscharführer Hölger) und treffen dann in Sachsen auf den ersten US-amerikanischen Jeep. »Da habe ich geheult wie ein Schlosshund.«
Der Faschismus ist besiegt, der Krieg ist vorbei. Ruschin treibt es nach Hause, nach Berlin. Über Umwege gelangt er am 9. Juni hierhin. »Und da habe ich gesehen, was sich in Berlin getan hat. Vom Alexanderplatz bis zur Plaza, das war ein, ja – so was Ähnliches wie (ei)n Zirkus, stand nicht ein einziges Haus. Und wir sind durch die Koppenstraße auf die Frankfurter Allee gefahren, und da war nur immer äh, Querstraßen, aber das war die Stadt der Warenhäuser. Hier Warenhäuser und dort Warenhäuser. Alles zerbombt. Und ich wollte zu Freunden gehen, wo wir Sachen deponiert hatten, und die sind beim Bombenangriff ums Leben gekommen, so dass ich nichts mehr anzuziehen hatte. Und da bin ich bei der Polizei gewesen, und die haben gesagt: ›Wenn du bei uns schlafen willst, kannst du schlafen.‹ Sag ich: ›Gut, ich komme noch daraufhin zurück‹, und bin gegangen, wo wir gewohnt hatten. Da, wo mein Bett stand, ist eine Bombe reingeflogen. Aber ordentlich, hat ein Loch gerissen. Ich traf dann die frühere Schneiderin meiner Schwester, die hat gesagt: ›Sie können bei mir schlafen.‹ Und ich hab das akzeptiert, aber ich bin in den nächsten Tagen sofort weg. Denn ich habe verschiedene Möbel von mir zu Hause dort gesehen. Vielleicht war es Dummheit, aber ich wollte nicht bleiben. Und ich ging, um mich zu registrieren, und da treff ich drei frühere Kollegen, Kameraden, und die sagten: ›Geh man in die Iranische Straße 3 (Wedding – d. A.), da sitzt dein Onkel schon (im Altersheim, das als Durchgangslager fungiert – d. A.) und wartet auf dich.‹ Na ja, und das war der Anfang in Berlin. Und ich habe im Juni, Ende Juni (…) bei der Gemeinde angefangen. Und mein Onkel hat sofort kantorale Funktionen ausgeübt (…), er war sofort wieder von der Gemeinde eingestellt (worden) durch Rabbiner (Martin) Riesenburger, der ihn auf der Straße gesehen hat.«
Auf die Frage, wie es war, nach Deutschland, nach Berlin zurückzukehren, antwortet Ruschin: »Also ich wollte ja nicht hier bleiben. Ich bin gekommen nach Berlin, denn man wusste ja nicht, vielleicht kommt meine Schwester noch zurück, vielleicht kommt doch mein Vater noch zurück. Vielleicht kommen doch noch Angehörige zurück. Und es war leider nicht der Fall.« Bis zum 15. Mai 1947 bleibt Ruschin in Berlins französischem Sektor und zieht dann über Paris, Le Havre und Rio de Janeiro zur »einzigen überlebenden Schwester meiner Mutter« nach Chile, wo er zunächst in einer Gießerei und dann bei einem Deutschen arbeitet, bis er herausfindet, dass sein Meister ein alter SS-Mann ist. 1951 holt Günther seinen Onkel nach, der als Kantor in der jüdischen Gemeinde von Santiago anfängt.
In Chile lernt Günther über jüdische Jugendgruppen seine Frau Irene kennen. Sie ist auch eine Berliner Emigrantin und Holocaustüberlebende, die 1939 noch mit 10.000 anderen jüdischen Kindern im Rahmen des »Kindertransports« nach England ausgereist war. Günther und Irene heiraten am 30. Januar 1955, das Paar bekommt zwei Kinder: 1957 Leonardo, 1958 Ricardo. In der hochprofitablen Spielwarenfabrik seines Schwiegervaters wird Günther bald Teilhaber – »bis Herr Allende kam. Und da habe ich gesagt, ich bleibe nicht in Chile. Ich habe vor mir gesehen Kuba, dass da keiner rauskam«. Über den Umweg USA kehrt die Familie, durch den Auschwitz-Überlebenden Heinz Galinski aufgefordert, in das Deutschland zurück, das Günther 1965 von Santiago aus für eine Entschädigung als Holocaustopfer verklagen musste. In Berlin angekommen, fungiert er von 1971 bis 1995 selbst als Kantor, in der liberalen Synagoge Pestalozzistraße des Charlottenburger Rabbi Manfred Lubliner (1910–1991). In dieser Funktion bildet er auch den in Buenos Aires geborenen Simon Zkorenblut aus, der nach seiner Ausbildung 1989 Hilfskantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wird und das Amt ab 1994 hauptberuflich ausübt.
Zu dieser Zeit, wenigstens um 1988, wohnen Günther und Irene Ruschin unweit der Synagoge in der Sybelstraße. Über ihr Gefühl, im Land der Täter zurück zu sein, sagt Irene Ruschin später: »Als ich zurückkam, wollte ich zunächst mit niemandem über einem bestimmten Alter sprechen. Aber seither haben wir herausgefunden, dass viele Deutsche Juden versteckt haben, ihnen geholfen und ihr eigenes Leben riskiert haben, um sie zu retten.« Die Aussage des israelischen Präsidenten Ezer Weizman, er könne »nicht verstehen, wie 40.000 Juden in Deutschland leben können«, empfindet Günther als nicht mehr denn die übliche zionistische Sichtweise. Er sagt, seine beiden Söhne seien durch den Holocaust unbelastet und zählten viele nichtjüdische Deutsche zu ihren Freunden. Aber seine eigenen Erinnerungen würden ihn nachts immer noch wachhalten. Er kommt zum Schluss: »Wenn es den Menschen gut geht, gibt es keinen Antisemitismus, und alles ist wunderbar. Aber sobald die Dinge schieflaufen, dann wird gegen die Ausländer und die Juden gehetzt.«
Die Ruschins bleiben bis ins hohe Alter aktive Gemeindemitglieder. Irene wird noch 2008 in den Sozialausschuss der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewählt. 2013 gehört sie zusammen mit Ruth Galinski, über die die Berliner Morgenpost 2013 schreibt, sie habe »die Gemeinde nach dem Holocaust wieder aufgebaut«, zu den Kritikern des Berliner Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe, dem »putineske« Führung und Missmanagement der beim Land Berlin hochverschuldeten Gemeinde vorgeworfen wird. Am 26. Januar 2014 unterzeichnet Irene eine Petition »für sofortige Neuwahlen in der Jüdischen Gemeinde: Für demokratische Standards, gegen Wahlbetrug und Stimmenklau«, gerichtet an den Vorsitzenden des Zentralrats der deutschen Juden.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (26. Januar 2025 um 23:30 Uhr)Habe gestern erneut den absolut sehenswerten Film »The Zone of Interest« von Jonathan Glazer im Kino gesehen; lief in mehreren franz. Kinos unter dem Titel »Les film incontournables«. Diese Interessenzone wird auch von Susanne Willems erwähnt. Auschwitz ist nicht nur wichtig als Gedenken und Widerstand, sondern steht auch als Zeichen und erneuten Widerstand gegen den zunehmenden Autoritarismus und Willkürlichkeit in Europa inkl. Frankreich, Deutschland, Österreich, Spanien etc. und den USA. Auschwitz steht auch für Verbrechen und Genozid, nicht nur an Jüdinnen und Juden, sondern auch an PolInnen, RussInnen, Sinti, Roma und anderen Völkern. Auschwitz steht auch für erneute Kriegsverbrechen Israels und dem Völkermord an PalästinensrInnen mit aktiver Untersetzung den kriegsverbrecherischen Regierungen der USA, Deutschlands, GB, aber auch Staaten wie die Türkei, Marokko, Emirate, Katar, Saudi-Arabien etc. die den Apartheidstaat weiterhin finanziell, militärisch, politisch und diplomatisch unterstützen. MM
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