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Aus: Ausgabe vom 27.01.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Faschistisches Verbrechen

Das je Besondere

Realer Ort realer Verbrechen: Susanne Willems über Auschwitz als Ort von Vernichtung und industrieller Sklavenarbeit
Von Kai Köhler
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Für die mörderische Zwangsarbeit vorgesehene Frauen in Auschwitz (Juni 1944)

Auschwitz steht heute als Begriff nicht allein für den Völkermord, den die deutschen Faschisten an den Juden verübten, sondern ist als »Zivilisationsbruch« als das ganz andere markiert. Diese Sicht ist zumeist durchaus ehrenwert motiviert: durch das wohlbegründete Entsetzen nicht nur über das Ausmaß der Verbrechen, sondern zudem über die rationale Planung des rational schwer Erklärbaren und vor allem durch die Notwendigkeit, eine Wiederholung zu verhindern.

Zugleich ergeben sich daraus offenkundig Probleme. Das Missbrauchspotential ist groß: Es zeigt sich in den Aufrufen des Westens, den je aktuellen Hitler zu bekämpfen, mag der nun in Belgrad, Bagdad oder Moskau sitzen, und in der aktuellen proisraelischen »Staatsräson«. Begründet ist dies durch eine bis zur Unkenntlichkeit idealisierte Sicht auf die Zivilisation, die da gebrochen worden sein soll. Bewohner kolonialisierter Weltgegenden etwa dürften skeptischer auf solche Werte blicken.

Eine der Stärken des Buchs »Auschwitz«von Susanne Willems besteht darin, dass sie all diese Fragen nicht stellt. Sie tut so, als sei Auschwitz – realer Ort realer Verbrechen – nicht längst zum Mythos geworden, und konzentriert sich auf Fakten. Geschichtsphilosophische Deutungsversuche wird man in ihrem Buch nicht finden, und auch die Funktion von Auschwitz im ganzen der faschistischen Kriegspolitik deutet sie nur an. Statt dessen folgt Information auf Information über die Abstimmung zwischen Wirtschaft, SS und Rüstungsministerium, über verwirklichte und nicht verwirklichte Baupläne sowie über Kosten-Nutzen-Rechnungen. Man erfährt, wann welche Häftlingsgruppen nach Auschwitz deportiert wurden, welche Lebens- oder zumeist Sterbebedingungen sie jeweils hatten.

Von zentraler Bedeutung ist dabei das mittlere Wort im Untertitel des Buchs: »Sklavenarbeit«. Anders als etwa Sobibor war Auschwitz nicht ausschließlich Vernichtungs-, sondern ­zugleich Arbeitslager. Wie viele Opfer nach Auschwitz deportiert wurden, welcher Anteil von ihnen bei der Ankunft der sofortigen Ermordung entging und als arbeitsfähig eingestuft wurde, richtete sich nach dem Bedarf der deutschen Firmen vor Ort, von denen die IG Farben nur die bekannteste war. Willems benennt die Täter aus der Wirtschaft und die Zahl der Arbeitssklaven, die die SS den Unternehmen bereitstellte.

Klar wird, dass die Täter eine Überausbeutung betrieben. Nach wenigen Wochen oder höchstens Monaten waren ihre Opfer derart ausgelaugt, dass sie als arbeitsunfähig erachtet, getötet und durch neue Häftlinge ersetzt wurden. Willems verdeutlicht, dass eine Spaltung der Belegschaft nach rassistischen Kriterien nicht als »vorübergehendes Übel der Kriegszeit«, sondern als Zukunftsmodell für eine Expansion angesehen wurde. Hier offen, gesondert zu untersuchen, bleibt die Frage, bis zu welchem Punkt sich brutale Vernutzung für kapitalistische industrielle Produktion rechnet. Nützen stets neu Anzulernende und bald Halbtote überhaupt optimal dem Profit? Kennt das Kapital eine Radikalisierung sogar über das aus Tätersicht Rationale hinaus?

Die Sprache des Buchs ist der eines Protokolls ähnlich. Das wird dem entsetzlichen Geschehen am ehesten gerecht, denn Versuche, Empörung zu formulieren, wirken erfahrungsgemäß schnell hilflos. Die umgekehrte Gefahr ist natürlich, dass lange Zahlenreihen über Verschleppte und Ermordete abstumpfen lassen. Sie ist hier nicht ganz vermieden, auch wenn Willems immer wieder Einzelschicksale hervorhebt und das je Besondere einzelner Lagerbereiche und Häftlingsgruppen anschaulich zu machen weiß.

In mehreren Hinsichten geht sie über das Stereotyp von Auschwitz als Stätte des Mords an Juden hinaus. Dabei bleibt unumstritten, dass Auschwitz ein Hauptort der Schoah war und die weitaus meisten Opfer Juden waren. Doch rückt Willems auch Sinti und Roma ins Blickfeld, ebenso sowjetische Kriegsgefangene und (zumeist polnische) Widerstandskämpfer. Besonders letztere waren wichtig für den antifaschistischen Kampf, den es sogar unter den schwierigen Bedingungen des Vernichtungslagers gab und der hier anschaulich wird. Hilfreich ist eine abschließende Zeittafel, die Daten zum Kriegsverlauf insgesamt, zur Kriegswirtschaft, zur Entwicklung des KZ Auschwitz und zur dortigen industriellen Sklavenarbeit zueinander in Bezug setzt. Dies verdeutlicht, dass das KZ Auschwitz eine Erscheinungsform des Kapitalismus war.

Susanne Willems: Auschwitz. ­Terror – Sklavenarbeit – Völkermord. Edition Ost, Berlin 2025, 285 Seiten, 22 Euro

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