Kanone und Sektglas
Von Ronald Kohl
Paul stürmt blutüberströmt durch die Eingangshalle des Lotterieimperiums »Centrale des Jeux«. In der einen Hand hält er einen Tippschein, in der anderen eine geladene und entsicherte Pistole. Anscheinend verläuft sein Gespräch mit den für die Auszahlungen zuständigen Mitarbeitern zu seiner vollsten Zufriedenheit. In der nächsten Szene sehen wir, wie er freudestrahlend, mit einem Glas Sekt in der Hand, das Gebäude wieder verlässt. Draußen wartet bereits seine Frau auf ihn – und mindestens zwei Dutzend Polizisten, die ihre Maschinenpistolen auf ihn richten. Das hält Paul nicht davon ab, ihnen zuzuprosten und genüsslich einen Schluck zu trinken, obwohl er von dem Geld wohl nicht viel haben wird.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, was Sie mit ein paar Lottomillionen anfangen würden? Ich kann es Ihnen genau sagen: Als Durchschnittsdeutscher mit Sicherheit erst einmal gar nichts. Die geschulten Damen und Herren von der Gewinnbetreuung würden Ihnen nämlich dringend davon abraten, Ihren neuen Reichtum zu zeigen. Vor allem dürften Sie es nicht Ihren Kindern erzählen; die Qual, ein Geheimnis für sich zu behalten, sollte man ihnen ersparen.
Die Protagonisten in Maxime Govares Episodenfilm »Sechs Richtige – Glück ist nichts für Anfänger« haben, abgesehen vom eingangs erwähnten Paul, keine Kinder, denen sie etwas verheimlichen müssten. Sie haben andere Sorgen: einen lausigen Job, kein Glück in der Liebe, oder sie sind aufgrund wirrer politischer Überzeugungen als Selbstmordattentäter unterwegs.
Was mag das wohl für ein Gefühl sein, wenn man mit 30 Kilogramm TNT unter dem Mantel in der Pariser Metro sitzt und dann rein zufällig einen Blick auf die Zeitung eines anderen Fahrgastes wirft? Plötzlich stellst du fest, dass der Lottoschein, den du nur gekauft hast, um nicht aufzufallen, 60 Millionen Euro Gewinn bedeutet. Ein Freudensprung erscheint nicht ratsam. Und dann sind da auch noch deine beiden Terrorkollegen, die im selben Abteil sitzen. Zwei Typen, die genauso eine Vollmeise haben wie du, aber eben auch nicht total bescheuert sind und deshalb ihren Anteil fordern werden. Sie einfach wegzusprengen ist im Moment keine Option. Dann erscheinen auch noch die Flics auf der Bildfläche. Ist wohl doch nicht dein Tag.
Die vier Geschichten sind nicht miteinander verflochten, jede hat eigene Charaktere und einen anderen Plot. Was sie verbindet, sind Lotto und schwarzer Humor. Und überraschende Wendungen, die uns schneller beglücken als die kleinen weißen Kugeln bei »6 aus 49«. Es wirkt tatsächlich so, als hätten sich Henry Slesar und Roald Dahl zusammen an einen Tisch gesetzt und sich Lottogeschichten ausgedacht, um hinterher den Koautor mit ein paar fiesen Tricks um seinen Anteil zu prellen. Mit anderen Worten: Auch die Moral spielt im Film eine gewisse Rolle.
Henri hasst das billige Altenheim, in das ihn seine geizige Verwandtschaft verfrachtet hat. Aber immerhin hat er sein eigenes Zimmer und einen funktionstüchtigen Fernseher. So findet er ein wenig Ablenkung und Entspannung. Nur wenn die Lottofee am Sonnabend Scheiße baut, rastet er immer völlig aus, beschimpft sie lauthals. Heute ist er mit ihr zufrieden. Bloß dass es ihm ein bisschen zu langsam geht. Die Aufregung bekommt ihm nicht. Die beiden Krankenschwestern, die ihn leblos auffinden, entdecken den Schein in seiner Hand. Es sind die Zahlen aus dem Fernsehen. Die ältere von beiden meldet Skrupel an. Doch nur so lange, bis schließlich der diensttuende Arzt dazukommt. Den alten Henri hätte es sicher gefreut, dass seine Sippschaft leer ausgeht. Aber ob ihm auch das tragische Ende der Krankenschwestern behagt hätte? Ganz gewiss doch! Er war genau so ein Ekel, wie fast alle Charaktere im Film (spätestens nach ihrem Gewinn).
Die einzige sympathische Figur ist Paul, der Mann mit der Kanone und dem Sektglas. Er muss in den Knast, obwohl er niemandem etwas getan hat. Seine Frau kümmert sich derweil um die Millionen und um die beiden halbwüchsigen Kinder. Sie kommen auf bessere Schulen. Dafür müssen die drei natürlich in eine teurere Gegend ziehen. So wird das Geld weniger. Es reicht am Ende nicht einmal mehr, um die Forderungen der Gefängnisinsassen zu erfüllen, als Pauls Entlassung ansteht. Alle wollen sie etwas abhaben vom großen Kuchen, auch die Wärter, und nur die können verhindern, dass Paul in der letzten Nacht von den anderen Insassen »auf links gedreht« wird. Pauls Frau ist ratlos. Was ist jetzt wichtiger? Ihr Mann? Oder gar ihre Ehe? Oder das Wohl der Kinder? – Höchste Zeit für einen neuen Tippschein.
»Sechs Richtige – Glück ist nichts für Anfänger«, Regie: Maxime Govare, Frankreich 2024, 103 Min., Kinostart: 30.1.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Feuilleton
-
Dialog mit einem Krokodil
vom 30.01.2025 -
Alles relativ
vom 30.01.2025 -
Die Milch macht’s
vom 30.01.2025 -
Nachschlag: Daimonion
vom 30.01.2025 -
Vorschlag
vom 30.01.2025