Dialog mit einem Krokodil
Von Barbara EderComics sind nichts Eindimensionales: Sie operieren nicht innerhalb eines vorgegebenen Referenzsystems und erzeugen keine stabilen Bedeutungen. Francis Lacassin hat die auf Papier gebannten Bildabfolgen auch als neunte Form der Kunst bezeichnet – eine Ausdrucksform, die Elemente aus den Genres Zeichnung und Malerei ebenso nutzt wie solche aus Musik, Poesie und Film. Auch Davide Toffolos Graphic Novel »Interview mit Pasolini« verleibt sich unentwegt »Artfremdes« ein. Toffolo, Illustrator und Frontman der italienischen Artrockband Tre Allegri Ragazzi Morti, begibt sich darin auf die Suche von Spuren des legendären italienischen Dichters und Regisseurs – mit intermedialen Mitteln: Die Dialoge im Buch ähneln oft Skizzen aus Storyboards, durchbrochen von surrealen Sequenzen aus Pasolinis in Comicform dargestelltem Film »La Terra vista dalla Luna« oder fotografischen Aufnahmen des Autors.
Der Zeichenstift des Szenaristen sorgt im Buch für eigenwillige Perspektiven: Mal zeigt Toffolo seinen Gesprächspartner im Close-up und fokussiert dabei auf seine ausgehöhlten Wangen; Seiten später erscheint Pasolini wiederum als blasse Silhouette, flächenhaft und bis hin zur bloßen Linie abstrahiert. Durch schnelle Wechsel im Verhältnis von Nähe und Distanz entsteht ein flüchtiges Bild des homosexuellen Künstlers, der im November 1975 am Hafen von Ostia ermordet wurde. Es wirkt, als ob sich das vermeintliche Original mit dem Entwurf nie ganz gemein machen wollte. Toffolos Bilder kommen damit auch der ursprünglichen Bedeutung dieses Begriffs besonders nahe: Gemäß der Empedokleischen Optik der Antike konnten sich die Geister der Toten ebenso in effigie zeigen wie die Gesichter der Lebenden – eine Differenzierung, die in »Interview mit Pasolini« schier aufgehoben scheint.
Toffolos Korrespondenzen mit Pasolini beginnen in der jüngeren Gegenwart und gleichen einer Heimsuchung: Zuerst meldet sich der tote Autor telefonisch, später per E-Mail. Aus dem Anruf wird eine ideologische Anrufung, die eine Serie an unheimlichen Begegnungen nach sich zieht. Zum ersten Mal treffen Pasolini und Toffolo in einem Hotelzimmer in Pordenone, einer Stadt in der autonomen Region Friaul-Julisch Venetien und zugleich Geburtsort des Zeichners, aufeinander. Bologna, Rom und Ostia sind weitere Stationen ihrer Zusammenkünfte. Am Ende folgt Toffolo seinem Idol sogar bis in die Sümpfe von Grado: »Vielleicht habe ich ihn gefunden … mit Sicherheit hat er mich gefunden«.
Wie zu lesen ist, was sich im Zwischenraum der Bilder zeigt, überlässt Davide Toffolo weitgehend den Leserinnen und Lesern; einer von mehreren Hinweisen findet sich jedoch schon auf der ersten, noch nicht paginierten Seite der von Fabien Vitali aus dem Italienischen übersetzten Graphic Novel: Ein Hund, der Pasolini wie aus dem Gesicht geschnitten ist, würgt den verstörten Ich-Erzähler aus seinem Körper. Anfangs drohte dieser noch hinter seinem Idol zu verschwinden, nach und nach erhält Davide Toffolos Comic-Alter-ego jedoch Teile seines besessenen Selbst zurück. Gegen Ende fügt er sich ein letztes Mal den kruden Unterweisungen von »Signor Pasolini«: Der Erzähler findet sich unerwartet in der Position Giuseppe »Pino« Pelosis, dem Mörder Pasolinis, wieder und wird von diesem dazu aufgefordert, dessen Gliedmaßen vom Körper zu trennen. Erst danach erwacht Davide aus dem düsteren Alptraum der hypnagogen Bilder.
»Interview mit Pasolini« erzählt nicht nur die phantastische Geschichte einer unfreiwilligen Einverleibung, sondern auch die eines melancholiebedingten Ich-Verlusts. Das fingierte Vatermordszenario ist demnach auch eine der Schlüsselszenen dieser zutiefst verstörenden Graphic Novel. Pasolini spricht darin als homosexueller Kommunist und religiöser Atheist, als avantgardistischer Filmemacher und Anhänger des italienischen Neorealismus zugleich. Sein Weg vom ehemaligen Volksschullehrer, der wegen angeblicher Unsittlichkeit seine Stelle verliert und nach Rom ziehen muss, wird ohne Beschönigung nachgezeichnet. Die Zeit in der ewigen Stadt beschrieb Pasolini auch als eine der quälenden Arbeitslosigkeit, gepaart mit der Unfähigkeit zu schreiben und »aufgefressen von der Angst, nicht so zu sein, wie das Leben verlangte«. Die dazugehörigen Texte stammen aus Interviews und Büchern des Autors.
In einigen Metakommentaren zur Erzählung wechselt Pasolini seine ursprüngliche Gestalt: Er taucht darin ebenso als Hund auf wie als Echse. Seinen Lesern rät er mitunter auch, »den Raben endlich zu fressen« – und spielt damit auf den marxistischen Wanderprediger in Vogelgestalt aus seinem Film »Uccellacci e uccellini« an. Nachdem Ninetto und sein Vater, gespielt vom italienischen Komiker Totò, das sprechende Tier auf dem Weg durch die römischen Vororte geschlachtet hatten, aßen sie es nicht aus bloßem Hunger. Mit dem Verspeisen des Vogels – er symbolisiert den ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens Palmiro Togliatti – wird für sie auch die dazugehörige Ideologie zum toten Hund.
Toffolos Pasolini kann für die durch Togliatti vertretene stalinistische Linie innerhalb der PCI ebensowenig Sympathie aufbringen wie für das konsumistisch zugerichtete Kleinbürgertum im Italien der Nachkriegszeit. »Dies waren die Worte eines dichtenden Krokodils, und wir wiederholen sie im Andenken an seinen Tod«, heißt es demnach auf einer der letzten Seiten des Buches. Wer Pier Paolo Pasolinis Werk kennt, weiß, dass das Reptil für ihn Sinnbild einer korrupten Bourgeoisie war, die sich opportunistisch anpasst und deshalb immer überlebt. In seiner Satire mit dem Titel »Coccodrillo« von 1968, zugleich als »Nachruf auf mich selbst« verfasst, heißt es aber auch: »Wie alle nicht normalen und daher nicht heiligen Personen / hinterließ er weder Schmerz noch gab es Tränen. / Es weinten nur verzweifelt seine Mutter, Graziella und Ninetto. / Beginnen wir noch einmal, da doch der Schiffbruch lieb mir ist in diesem Meer.«
Davide Toffolo: Interview mit Pasolini. Aus dem Italienischen von Fabien Vitali. Galerie der Abseitigen Künste, Hamburg 2024, 164 Seiten, 24 Euro
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