Alle Finger im Spiel
Von Jörg Kronauer
Ahmed Al-Scharaa hatte das Ziel seiner ersten Auslandsreise im Amt sehr bewusst gewählt. Erst kurz zuvor, am 29. Januar, hatte er sich in Damaskus zum Übergangspräsidenten Syriens ernennen lassen, rund siebeneinhalb Wochen nach dem Sturz des langjährigen Präsidenten Baschar Al-Assad. Am vergangenen Sonntag, dem 2. Februar, brach er nun gemeinsam mit seinem Außenminister Asaad Al-Schaibani nach Saudi-Arabien auf. Die Symbolik lag auf der Hand: Priorität hat für Syrien unter der Herrschaft des führenden Funktionärs der Dschihadistenallianz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS), was die äußeren Beziehungen betrifft, das saudische Königshaus. Entsprechend zufrieden gab sich Al-Scharaa nach seinem Gespräch mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman Al Saud, dem eigentlichen Machthaber in Riad. »Wir hatten ein langes Treffen«, zitierte ihn die staatliche syrische Nachrichtenagentur SANA. Man habe daran gearbeitet, »das Niveau der Kommunikation und der Kooperation auf allen Feldern zu heben, vor allem auf humanitärem und auf wirtschaftlichem Feld«. Beides hat für Syrien zur Zeit hohe Priorität.
Radikaler Kurswechsel
Kaum etwas lässt die außenpolitischen Kräfteverschiebungen in Syrien nach Assads Sturz so deutlich zutage treten wie die neue Stellung, die Saudi-Arabien in Damaskus innehat. Unter Assad war, was die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens anbelangt, seit langer Zeit Iran der Kooperationspartner Nummer eins. Daneben hatte in den Jahren seit 2013, verstärkt seit seinem Kriegseintritt im Jahr 2015, Russland deutlich an Bedeutung gewonnen. Besonders militärisch stützte Damaskus sich stets auf Moskau und Teheran bzw. auf deren Soldaten, Söldner und Milizen. Saudi-Arabien hatte spätestens ab 2011, ähnlich wie Katar und die Türkei, die Opposition gegen Assad gestärkt, die sich in besonderem Maße aus der sunnitischen Bevölkerung rekrutierte, während Syriens Regierung stark auf religiöse Minderheiten baute, auf die Alawiten, die Schiiten, die Christen. Mit dem Umsturz vom 8. Dezember 2024 kehrten sich die Dinge um: Neben Saudi-Arabien konnten vor allem die Türkei und Katar auf großen Einfluss in Damaskus hoffen, während Iran allenfalls auf jetzt oppositionelle Kräfte setzen konnte und Russland hartnäckig darum kämpfte, nicht vollständig abgedrängt zu werden. Syrien erlebte nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch einen Kurswechsel um 180 Grad.
Es lohnt auch in anderer Hinsicht, einen Blick auf die neue Rolle zu werfen, die Saudi-Arabien heute in Syrien spielt. Als im Jahr 2011 der Aufstand gegen die Regierung Assad begann und Riad tat- und finanzkräftig die Aufständischen unterstützte – gerne auch Dschihadisten –, da tat es dies, wie seit Jahrzehnten üblich, eng an der Seite der westlichen Mächte. Und während in Syrien der Krieg tobte, bereiteten deutsche und US-amerikanische Regierungsstellen und -berater im Sommer 2012 in Berlin syrische Exiloppositionelle im Rahmen eines Projekts mit dem vielsagenden Titel »The Day After« auf Regierungsarbeit in der erhofften Post-Assad-Ära vor. Saudi-Arabien und andere sollten vor Ort Assads Sturz vorantreiben; die westlichen Hauptmächte wollten anschließend, von den saudischen, türkischen und katarischen Hilfsdiensten profitierend, eine neue, eindeutig auf (EU-)Europa und auf die USA orientierte Regierung nach Damaskus einfliegen und sie dort solide installieren. Dass im Syrien-Krieg der Westen die Fäden zog, während die arabischen Golfstaaten und die Türkei ihm lediglich zuarbeiteten, schien klar.
Neue Allianzen
Auch das hat sich gewandelt. Saudi-Arabien hat insgesamt begonnen, eine eigenständige, nicht mehr einseitig vom Westen abhängige Politik zu entwickeln. Es ist um seine eigene Industrialisierung, um den Aufbau eigener IT-Unternehmen bemüht, besonders auf dem Feld der künstlichen Intelligenz (KI). Außenpolitisch hat es die Beziehungen zu den BRICS-Staaten ausgebaut, wenngleich es dem Bündnis bisher nicht beigetreten ist. Riad hat, zuletzt unter chinesischer Vermittlung, angefangen, seine erbitterte Rivalität mit Teheran durch einen gewissen Abgleich zwischen beiden Seiten systematisch zu entschärfen. Und es hat längst vor dem 8. Dezember 2024 begonnen, seine eigene Syrien-Politik zu entwickeln. Bereits 2017 kündigte die saudische Regierung an, sich aus der Unterstützung der syrischen Aufständischen zurückzuziehen. 2021 nahm sie vorsichtig Kontakt zu Assads Regierung auf; 2023 leitete sie, während der Westen beinhart an seinen Sanktionen festhielt, die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Syrien ein und billigte dessen Rückkehr in die Arabische Liga, die dann auf dem Gipfel der Organisation im Mai 2023 erfolgte. Am 10. September 2024 eröffnete Saudi-Arabien seine Botschaft in Damaskus erneut.
Dass Saudi-Arabien trotz seiner Annäherung an Assad herausragende Bedeutung für Syrien unter Al-Scharaa hat, hat Gründe. Als traditioneller Rivale Irans ist Riad nützlich, um Teheran auf Abstand zu halten, das den sunnitischen Hardlinern der HTS als Vormacht des schiitischen Islams verhasst ist. Darüber hinaus besitzt der saudische Herrscherclan die finanziellen Mittel, die Syrien für seinen Wiederaufbau braucht. Riad werde »eine bedeutende Rolle in Syriens Zukunft« spielen, teilte Al-Scharaa bereits am 29. Dezember 2024 in einem Interview mit dem saudischen Sender Al-Arabija mit. Es begannen wechselseitige Besuche. Am 1. Januar traf Syriens Außenminister Al-Schaibani – es war seine erste Auslandsreise im Amt – in Riad mit seinem dortigen Amtskollegen Faisal bin Farhan Al Saud zusammen. Am 24. Januar traf Bin Farhan zu einem Gegenbesuch bei Al-Scharaa in Damaskus ein. Bin Farhan hob in der syrischen Hauptstadt »die Bedeutung einer beschleunigten Aufhebung aller Sanktionen« gegen Syrien hervor und teilte mit, Riad befinde sich dazu bereits in einem »aktiven Dialog mit allen relevanten Ländern«; das hieß: mit den USA und den EU-Staaten.
Allgemein aber bereite Saudi-Arabien sich mit der intensiven Einflussnahme auf Syrien unter der HTS auf »eine postamerikanische Ordnung in der Region« vor, urteilte Anfang Januar Nicholas Heras von der Washingtoner Jamestown Foundation. Riad gestalte sein Vorgehen in und mit Damaskus nicht mehr in Abhängigkeit vom Westen, sondern entsprechend seinen eigenen Interessen.
Rolle der Türkei
Das lässt sich auch von dem zweiten Staat sagen, der einen führenden Einfluss in Damaskus einfordert: von der Türkei, die ihrerseits seit Jahren eine unabhängige Außenpolitik treibt, trotz ihrer NATO-Mitgliedschaft der Shanghai Cooperation Organisation (SCO), der sie schon als »Dialogpartner« verbunden ist, als Vollmitglied beitreten will und die sich zudem dem BRICS-Bündnis angenähert hat. Die Türkei ist das Land, das auf die längste und umfassendste Kooperation mit der HTS zurückblicken kann. Ohne die Möglichkeit, sich über die Türkei mit allem Notwendigen zu versorgen, hätte die HTS ihre Herrschaft in Idlib in all den Jahren seit ihrer Gründung Anfang 2017 kaum aufrechterhalten können. Ohne militärische Unterstützung durch die türkischen Streitkräfte hätte sie sich kaum gegen die syrischen Streitkräfte behaupten können. Ohne grünes Licht aus Ankara hätte sie es womöglich auch nicht gewagt, Ende November 2024 ihre große Blitzoffensive zu starten, die schließlich zu Assads Sturz führte.
Die Türkei fordert nun dementsprechend eine führende Einflussnahme auf die syrische Übergangsregierung unter Al-Scharaa ein. Es rief international Aufsehen hervor, dass sich İbrahim Kalın, der Leiter des türkischen Geheimdienstes MİT, der die HTS-Blitzoffensive unterstützt hatte, am 12. Dezember von Al-Scharaa persönlich und in aller Öffentlichkeit zum Gebet in die Omaijaden-Moschee chauffieren ließ. Und als am 22. Dezember Hakan Fidan – als erster Außenminister überhaupt nach Assads Sturz – nach Syrien reiste, kündigte Al-Scharaa den Ausbau der »strategischen Beziehungen« zur Türkei an.
Die Türkei verfolgt in Syrien unterschiedliche Interessen. Zum ersten ist sie bemüht, die Flüchtlinge, die sie in den Jahren ab 2011 aufgenommen hat, möglichst umfassend wieder loszuwerden. Zum zweiten bekämpft sie weiterhin jegliche kurdische Eigenständigkeit und geht unverändert gegen Rojava vor. Die militärische Offensive der von ihr abhängigen und unterstützten Milizen, die unter dem Label Syrian National Army (SNA) auftreten, kam Ende 2024 westlich des Euphrats zum Stillstand – auf Druck der Biden-Regierung. Der Grund: Die USA setzen bei ihrem Vorgehen gegen den IS nach wie vor auf die kurdischen YPG und die von ihnen dominierten Syrian Democratic Forces (SDF). Müssten diese all ihre Kräfte gegen die SNA einsetzen, fielen sie nicht nur vollständig im Kampf gegen den IS aus, es stünde auch in Frage, ob sie die rund ein Dutzend nordsyrischen Lager, in denen IS-Kämpfer und andere Dschihadisten interniert sind, noch im erforderlichen Ausmaß bewachen könnten. Das wollte die Biden-Regierung vermeiden. Anfang Januar bot Ankara Washington an, die Überwachung der Lager zu übernehmen, wenn die Vereinigten Staaten im Gegenzug die SDF bzw. die YPG fallenließen und nicht mehr gegen die Fortsetzung der türkischen Offensive opponierten. Biden ließ sich in seinen letzten Tagen im Amt nicht darauf ein. Ob Trump dazu bereit sein könnte? Wer weiß das schon.
Mit der HTS-Übergangsregierung in Syrien ergeben sich für die Türkei allerdings neue Chancen. Denn die HTS legt Wert darauf, Syrien als Ganzes unter ihre Kontrolle zu bekommen – die kurdischen Gebiete im Norden inklusive. Als SDF-Kommandeur Mazlum Abdi Ende Dezember in Damaskus mit Al-Scharaa zusammenkam, um über eine grundlegende Regelung für die Zukunft zu verhandeln, prallten Gegensätze aufeinander. Al-Scharaa, so berichtete es Abdi Mitte Januar der französischen Abendzeitung Le Monde, sei strikt dagegen, dass die kurdischsprachige Minderheit eine umfassende Autonomie bekomme. Auf dieser aber bestehe die kurdische Seite entschieden. Ähnlich lägen die Differenzen in militärischen Fragen. Während Al-Scharaa ausnahmslos alle Milizen des Landes in die Streitkräfte integrieren wolle und dies auch von den SDF bzw. den YPG verlange, führe mindestens für die YPG, schon um die Sicherheit für die allzu lange diskriminierte kurdische Minderheit zu garantieren, an einer dauerhaften Eigenständigkeit kein Weg vorbei. Mit Blick auf den Konflikt zwischen der HTS und Rojava lehnt sich Ankara zur Zeit ein wenig zurück und beobachtet, ob es die Entmachtung der syrischen Kurden nicht einfach Damaskus überlassen kann.
Klar ist dabei, dass die Türkei sich möglichst starken Einfluss auf die Übergangsregierung in Damaskus und damit auf ganz Syrien verschaffen will. Mit Blick darauf, dass das Land einst zum Osmanischen Reich gehörte, sprach Mitte Dezember etwa der französische Islamexperte Gilles Kepel von einem »neoosmanischen Vorstoß«. Das waren starke Worte; stellt man aber in Rechnung, dass Ankara unter Recep Tayyip Erdoğan nicht nur einer konservativ-islamisch geprägten Innenpolitik zur Durchsetzung verholfen hat, sondern auch nach außen auf expansive Aktivitäten in ehedem zum Osmanischen Reich gehörende, bis heute islamisch geprägte Weltgegenden hinein zielt, trafen sie den Kern. Selbstverständlich hat die expansive Politik eine starke ökonomische Komponente; man darf etwa davon ausgehen, dass die türkische Bauwirtschaft, die beispielsweise in Afrika schon heute Nummer zwei hinter der chinesischen Branche ist, Syriens Wiederaufbau maßgeblich übernehmen wird. Und nicht nur das. Ankara hat längst erkennen lassen, dass es gern Syriens neue Streitkräfte ausbilden und vor allem auch ausrüsten will, und zwar mit Produkten der türkischen Rüstungsindustrie, die stark geworden ist, auch wenn man sie im Westen immer noch oft unterschätzt.
Längst ist auch der türkisch-syrische Besuchsverkehr rege. Außenminister Al-Schaibani, der an der Sabahattin-Zaim-Universität in Istanbul studiert hat, traf am 15. Januar in Ankara mit Erdoğan und Fidan zusammen. Wenig später erläuterte er in der Financial Times, Damaskus setze darauf, von türkischer »Technologie« ebenso wie von den Beziehungen der Türkei nach Europa zu profitieren. Am Mittwoch dieser Woche traf Al-Scharaa auf seiner zweiten Auslandsreise im Amt in der türkischen Hauptstadt ein. Erdoğan sprach anschließend von einer »Ära dauerhafter Freundschaft und Zusammenarbeit« zwischen den beiden Staaten, während Al-Scharaa erklärte, Syrien werde die türkische Unterstützung im Kampf gegen Assad nie vergessen. Details zu einem Militärabkommen zwischen beiden Ländern, das laut einem Reuters-Bericht tags zuvor, am 4. Februar, geschlossen worden sein soll, wurden nicht bekannt. Vielleicht entscheidend wird sein, welchen Abgleich die Türkei und Saudi-Arabien über ihren jeweiligen Einfluss in Syrien erzielen. Als Fidan am 28. Januar in Riad mit seinem saudischen Amtskollegen Bin Farhan zusammentraf, stand unter anderem dies auf ihrem Arbeitsprogramm.
Hilfe aus Katar
Ein weiteres Land, das wegen seiner Unterstützung für die HTS eigentlich einen besonderen Einfluss auf die Übergangsregierung in Damaskus beanspruchen kann, ist Katar. Das Emirat hat in den Jahren von 2017 bis 2024 eine Menge Geld nach Idlib gepumpt, wo die HTS herrschte. Die Mittel sind in der Regel als Not- oder als Entwicklungshilfe geflossen, haben es aber faktisch der HTS ermöglicht, ihre Herrschaft über das Gebiet aufrechtzuerhalten. Katar war zudem das einzige Land der Arabischen Liga, das bis zum Schluss jede Annäherung an Assad verweigerte. Es kooperiert eng mit der Türkei, die in dem Emirat sogar einen Militärstützpunkt betreibt.
Grundlage ist nicht zuletzt die Nähe zur Muslimbruderschaft, die beide aufweisen, ganz im Gegensatz zu Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die eine solide Feindschaft zu den Muslimbrüdern pflegen, weil sie sie als subversiv empfinden. Diese Differenz hat dazu beigetragen, den Konflikt zwischen Riad und Abu Dhabi auf der einen, Doha auf der anderen Seite eskalieren zu lassen. Von 2017 bis 2021 mündete er sogar in eine Blockade Katars durch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Welchen Spielraum die innerarabischen Streitigkeiten für katarische Aktivitäten in Syrien lassen, wird sich zeigen. Katars Emir Scheich Tamim bin Hamad Al Thani war ganz unabhängig davon der erste auswärtige Staatschef, der nach Al-Scharaas Ernennung zum Übergangspräsidenten in Damaskus eintraf – am 30. Januar.
Verlierer
Neben den Einflussgewinnern – insbesondere Saudi-Arabien, die Türkei und Katar – hat Assads Sturz mehrere auswärtige Verlierer hervorgebracht, allen voran Iran. Das Land hat ohnehin in den vergangenen Monaten mehrere machtpolitische Rückschläge hinnehmen müssen. Die Hamas, mit der es kooperierte, ist durch den Gazakrieg ebenso geschwächt wie die Hisbollah durch den Libanon-Krieg und durch israelische Angriffe auf ihre Stellungen in Syrien. Hamas und Hisbollah hatten einen wichtigen Stellenwert in Irans Abwehrstrategie: Teheran hatte stets suggerieren können, es werde mit ihrer Hilfe, sollten Israel oder die Vereinigten Staaten iranisches Territorium angreifen, die Hölle losbrechen lassen. Sollte Iran jetzt attackiert werden – die Hölle wird um einiges kleiner sein. Dass nun auch noch Syrien für Iran verloren ist, ist für das Land gleich mehrfach schmerzlich – ihm ist damit nicht nur ein Verbündeter verlorengegangen, es fehlt nun auch die Landverbindung über den Irak und Syrien bis in den Libanon, über die sich bislang die Hisbollah halbwegs bequem versorgen ließ.
Schwer abzusehen ist, wie sich die Dinge in Syrien auf lange Sicht für Iran entwickeln werden. Grundsätzlich hat Teheran Einflusshebel bei religiösen Minderheiten in dem Land – vor allem bei den Schiiten –, die fürchten, vom radikalen sunnitischen Islam der langjährigen Dschihadisten, die jetzt in Damaskus herrschen, unterdrückt zu werden. Die Diskriminierung der schiitischen Bevölkerungsteile etwa in Saudi-Arabien und in Bahrain gilt als abschreckendes Beispiel. Zumindest theoretisch muss es nicht dazu kommen, dass Iran sich veranlasst sieht, auf Einmischung in Syriens innere Angelegenheiten zu setzen. Al-Scharaa erklärte am 29. Dezember im Interview mit Al-Arabija, Syrien könne nicht »ohne Beziehungen mit einem regional bedeutenden Staat wie Iran« bleiben. Ob das taktisch aber ernstgemeint war, das muss sich zeigen.
Saudi-Arabien hält bislang an seinen Bestrebungen fest, den Ausgleich zwischen sich und Iran zu festigen; eine kriegerische Eskalation stünde seinen Versuchen, eine eigenständige Industrie für die Post-Erdöl-Ara aufzubauen, im Wege. Syrien wiederum, zur Zeit katastrophal geschwächt, wird auf absehbare Zeit die Interessen seines saudischen Kooperationspartners kaum missachten können. Eine Garantie für eine zumindest nicht gewalttätige Koexistenz zwischen dem HTS-regierten Syrien und Iran ist das aber nicht.
Sorgen im Irak
Aus einem sehr ähnlichen Grund machen sich seit dem 8. Dezember 2024 im Irak ernste Sorgen breit. Al-Scharaa war 2003 aus Syrien in den Dschihad im Irak gezogen, hatte sich erst Al-Qaida, dann dem IS angeschlossen, der ihn 2011 nach Syrien entsandte. Auch wenn die HTS längst einen ernsten Konflikt mit dem IS austrägt, der ihrer Auffassung nach einer falschen Strategie folgt: Kann man sich darauf verlassen, dass die langjährigen HTS-Dschihadisten nicht von Syrien aus einen Aufstand unter gleichgesinnten Sunniten im Irak anzetteln, vielleicht gar doch irgendwann wieder den IS unterstützen?
Trifft ein Bericht des Onlineportals Al-Monitor zu, dann fühlten irakische Militärs bereits Mitte Dezember bei US-Stellen vor, ob es nicht möglich sei, die US-Truppen, die zur Zeit auf der Militärbasis Ain Al-Asad in der Provinz Anbar stationiert sind, aber laut aktuellem Stand bis September 2025 abziehen sollen, dort ein wenig länger im Einsatz zu lassen, damit sie bei Bedarf rasch gegen einen womöglich erstarkenden IS intervenieren können. Anbar, sunnitisch dominiert, gilt als eines der Gebiete, in denen ein Wiedererstarken des IS denkbar wäre. Als Iraks Ministerpräsident Mohammed Schia Al-Sudani am 8. Januar nach Teheran reiste, holte er sich dort allerdings eine deftige Abfuhr vom »Obersten Führer« Ali Khamenei ein. Der staatlichen Nachrichtenagentur IRNA zufolge forderte Khamenei, der Irak müsse trotz allem »gegen die illegale Militärpräsenz der US-Okkupationstruppen aufstehen«.
Neue Feinde?
Zu den Verlierern zählt in Syrien nicht zuletzt Russland. Manche hatten damit gerechnet, die neue HTS-Regierung werde die russischen Streitkräfte umgehend hochkant aus dem Lande werfen. Das geschah nicht. Trifft zu, was aus iranischen Quellen zu hören war – dass Moskau nämlich, als sich abzeichnete, dass Assads Streitkräfte kollabierten, den syrischen Präsidenten rasch fallenließ, ohnehin verärgert, dass er, seine Kräfte wohl überschätzend, partout nicht bereit gewesen war, einen Deal mit Erdoğan zur Dämpfung des Konflikts mit diesem zu schließen?
Was auch immer hinter den Kulissen gedealt wurde, um zum Schluss die quasi kampflose Übergabe von Damaskus an die HTS zu gewährleisten: Vielleicht besteht ein Zusammenhang zu den erstaunlichen Äußerungen, die Al-Scharaa am 29. Dezember gegenüber Al-Arabija tätigte. Al-Scharaa sagte jedenfalls, falls Russland seine Truppen wirklich aus Syrien abziehen müsse, dürfe dies nicht »auf eine Weise« geschehen, »die seine Beziehungen mit unserem Land untergräbt«; »strategische Interessen« verbänden auch weiterhin Syrien »mit dem zweitmächtigsten Land der Welt«. Ja, er meinte Russland.
Wie auch immer: Am 28. Januar führte eine Delegation unter Leitung des stellvertretenden russischen Außenministers Michail Bogdanow Gespräche in Damaskus. Kurz zuvor hatte die Übergangsregierung einen Vertrag mit der russischen Firma Stroitransgas gekündigt, die den Hafen von Tartus seit 2019 gemanagt hatte. Folgte daraus, dass nun auch die russischen Streitkräfte ihre Marinebasis Tartus sowie ihren Luftwaffenstützpunkt Hmeimim verlassen mussten? Das hatte jedenfalls zuvor Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock gefordert; die baltischen Staaten wollten es in der EU sogar zur Bedingung für die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien machen. Allerdings ist unklar, welche Rolle Deutschland und die EU in Damaskus künftig spielen werden.
Bliebe noch Israel zu erwähnen. Auf den ersten Blick scheint das Land zu den Gewinnern zu zählen. Sein langjähriger Gegner Assad ist gestürzt; sein wohl größter Feind Iran hat einen wichtigen Verbündeten verloren; und niemand konnte die israelischen Streitkräfte daran hindern, weitere Gebiete im Süden Syriens zu okkupieren. Ein solches Szenario hatte die israelische Regierung wohl vor Augen, als sie in den Wochen und Monaten vor Beginn der HTS-Blitzoffensive zahllose Luftangriffe auf Ziele in Syrien fliegen ließ – nicht nur auf Stellungen der Hisbollah, zuweilen auch auf syrische Militäreinrichtungen.
»Wir könnten am Ende Assad noch vermissen«, zitierte jedoch Al-Monitor Mitte Dezember eine anonyme »politische Quelle« aus Israel. Assad sei »schwach« gewesen, »auf sein eigenes Überleben konzentriert«; er habe »keine territorialen Ambitionen« außerhalb Syriens verfolgt, und er habe nicht »die dominante Macht im Nahen Osten werden« wollen. Die Quelle bezog all dies implizit auf die Türkei, der sie das Gegenteil unterstellte. Man weiß von Ankara unter Erdoğan, dass es nichts gegen Territorialgewinne einzuwenden hätte und seine regionale Macht ausdehnen will. Anfang Januar wurde dann in Israel eine neue Analyse der Nagel Commission mit einschlägigen Warnungen bekannt. Die Nagel Commission wurde 2023 geschaffen, um Empfehlungen für Israels Verteidigungsministerium zu erarbeiten. In ihrem jüngsten Papier schrieb sie, sollten sich die expansiven Absichten der Türkei bei einer engen Zusammenarbeit mit Syrien mit dessen Kräftepotenzialen verbinden, dann könne dies auf militärischer Ebene für Israel durchaus bedrohlich werden – vielleicht sogar bedrohlicher als Iran. Was die Kommission diskret überging: Israel hätte sich dann einen neuen, äußerst schlagkräftigen Feind selbst herbeigebombt.
Jörg Kronauer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. Januar 2025 über den wachsenden Einfluss der Volksrepublik China in Afrika.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (9. Februar 2025 um 14:36 Uhr)Herzlichen Dank an Jörg Kronauer für diesen Artikel. So kann man besser erkennen, welche Mächte und welche Interessen an den Akteuren in Syrien zerren und wohin. Dem syrischen Volk verspricht all dies Gezerre nichts Gutes: Es bleibt weiter Opfer auf der Schlachtbank geopolitischer Interessen, obwohl ihm doch Frieden und Wiederaufbau von ganzem Herzen zu wünschen wären.
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