Alle Fragen offen
Von Jürgen Heiser![15.jpg](/img/450/205480.jpg)
Der Mordanschlag auf den von der schwarzen Bevölkerung in den USA bewunderten und vom weißen Establishment mit allen Mitteln bekämpften Freiheitskämpfer Malcolm X jährt sich am 21. Februar 2025 zum 60. Mal. Er war zu Beginn einer seiner wichtigsten Reden auf offener Bühne im Audubon Ballroom in Upper Manhattan niedergeschossen worden und seinen schweren Verletzungen erlegen. Die Hintergründe des Mordkomplotts sind bis heute unaufgeklärt und bewegen weiterhin die Öffentlichkeit.
Aktuell befindet sich wegen dieses ungeklärten Kriminalfalls (»Cold Case«) ein Gesetzentwurf in der parlamentarischen Beratung des Unterhauses des US-Bundesstaates New York. Juristisch soll damit die Aufklärung des Verbrechens erzwungen werden. »Stadträtin Nantasha Williams und Senator James Sanders Jr., beide aus Queens, sind entschlossen, die Ermittlungen voranzutreiben, indem sie auf die Verabschiedung des ›Malcolm X Unsolved Civil Rights Crime Act‹ drängen«, meldete am 16. Januar 2025 die New Yorker Wochenzeitung Amsterdam News. Für Sanders Jr. war Malcolm X »die größte Inspiration« seiner Jugend, wie er dem afroamerikanischen Blatt sagte. Das »Gesetz über das ungeklärte Bürgerrechtsverbrechen an Malcolm X«, kurz »Malcolm X Act« genannt, sei »eines der Dinge, die wir verwirklichen können, um ihn zu ehren«, so der Senator, der das Gesetz initiierte.
Der 1925 geborene Malcolm Little, der als junger Mann in der Haft zum Islam konvertierte, legte seinen Sklavennachnamen Little ab und ersetzte ihn wie alle schwarzen Muslime der »Nation of Islam« (NOI) durch ein X. Jahrelang predigte er für die NOI, geriet jedoch mit ihrer Ideologie und Hierarchie sowie ihrem sexistischen Oberhaupt Elijah Muhammad in unlösbare Konflikte. Er sagte sich von der NOI los, um einen unabhängigen Weg zur Befreiung der Schwarzen von weißer Vorherrschaft einzuschlagen. Anlässlich einer Pilgerreise nach Mekka im April 1964 wandte er sich dem sunnitischen Islam zu und nahm den Namen El-Hajj Malik El- Shabazz an. Die auf der Hadsch und während Reisen durch Afrika und den Nahen Osten gewonnenen Erkenntnisse schärften sein internationalistisches Denken und bestärkten ihn in dem Vorhaben, die Unterdrückung der Schwarzen in den USA als Missachtung der Menschenrechte vor den Vereinten Nationen anzuklagen.
Vor aller Augen
Über die Prinzipien und die Perspektive der von ihm neu gegründeten Organization of Afro-American Unity wollte Malcolm X an jenem 21. Februar 1965 in New York City eine Grundsatzrede halten. Der Saal war vollbesetzt, doch kaum hatte der Redner das Wort ergriffen, lenkten zwei Provokateure im Saal mit einem Streit die Aufmerksamkeit auf sich, während Auftragsmörder den Redner vor aller Augen und zum Entsetzen seiner Frau Betty Shabazz und der kleinen Töchter erschossen.
Drei von der Polizei später festgenommene Verdächtige wurden im März 1966 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Obwohl zwei von ihnen jede Täterschaft von sich wiesen und Alibis vorweisen konnten, der dritte sogar seine Täterschaft zugab und die anderen beiden entlastete, blieb das FBI bei seiner Version des Verbrechens. Die unschuldigen Muhammad Abdul Aziz und Khalil Islam saßen bis Mitte der 1980er Jahre, 20 und 22 Jahre lang, ein, der geständige Mujahid Abdul Halim bis 2010. Jahrzehntelang wollten Staat und FBI-Führung alle Welt glauben machen, die Angelegenheit sei damit erledigt.
Neue Beweise
Doch im Jahr 2021 wurden die Verfahren gegen Aziz und den 2009 verstorbenen Islam neu aufgerollt: Fast vier Jahrzehnte nach ihren Entlassungen waren die Ermittlungen wiederaufgenommen worden, weil die New Yorker Justiz durch die Ausstrahlung der Netflix-Dokumentarserie »Who Killed Malcolm X?« im Jahr 2020 erheblich unter Druck geraten war. Laut einer AP-Meldung vom 1. November 2021 hob Richterin Ellen Biben, die in Manhattan mit der Wiederaufnahme des Prozesses befasst war, das Urteil von 1966 auf, weil »neue Beweise für die Einschüchterung von Zeugen und die Unterdrückung von entlastendem Beweismaterial keinen anderen Schluss zuließen«. Im Nachgang wurden Aziz und die Erben von Islam per Gerichtsbeschluss mit 36 Millionen US-Dollar »für die ungerechtfertigten Verurteilungen und Gefängnisstrafen« entschädigt.
Wie wenig die wahren Hintergründe des Mordfalls aufgeklärt sind, belegt auch eine im Herbst 2024 eingereichte Klage der Töchter von Malcolm X, die sie über Jahre akribisch vorbereitet hatten. Die Bürgerrechtsanwälte Ben Crump und Flint Taylor beschuldigen darin US-Bundesbehörden wie CIA und FBI sowie das New York Police Department (NYPD) der Verschwörung zum Mord an Malcolm X. NYPD und FBI hätten beim Mordkomplott »ihre Finger im Spiel gehabt«, versicherten laut Amsterdam News die Zeugen Walter Augustus Bowe, 93, und Khaleel Sultan Sayyed, 81. Als Leibwächter von Malcolm X seien beide eine Woche vor dem Anschlag für 18 Monate in Haft genommen und damit ausgeschaltet worden. Nach 60 Jahren erklärten sie nun zum ersten Mal, an ihrer Stelle habe ein Exmarinesoldat im Auftrag des NYPD die Leibwächtergruppe infiltriert und mit anderen Undercoveragenten den Anschlag auf Malcolm X vorbereitet.
Diese seit 2020 neu aufgedeckten Fakten stützen die Gesetzinitiative für den »Malcolm X Act«. Senator Sanders Jr. nannte als Modell dafür das 2022 in Kraft getretene Bundesgesetz »Emmett Till Antilynching Act«, das auf den Lynchmord an dem 14jährigen Till in Mississippi im Jahr 1955 zurückgeht. Es erlaubt dem US-Justizministerium, US-Staatsanwaltschaften anzuweisen, in »Cold Cases«, die als »Hassverbrechen« gelten, offiziell neu zu ermitteln. Es gehe darum, so Sanders Jr., gerade in ungeklärten Fällen mit neuen Fakten, eine transparente Untersuchung zu finanzieren, ohne dass sie durch »interessierte Parteien verdunkelt werden können«.
Stadträtin Williams hatte unlängst mit einer Resolution die Legislative des Staates New York und dessen Gouverneurin Kathleen Hochul (Demokraten) aufgefordert, den »Malcolm X Act« endlich zu unterzeichnen. Sie erhoffe sich davon einen bedeutenden Schritt in Richtung Gerechtigkeit »nicht nur für Malcolm X, sondern auch für unzählige andere ungelöste Fälle, in denen Bürgerrechte verletzt wurden«. Es gehe darum, »unser kollektives Engagement für Bürgerrechte, Wahrheit und Transparenz zu bekräftigen – Werte, für die Malcolm X gekämpft hat und die wir auch weiterhin hochhalten müssen«, so Williams.
Informationen aus erster Hand
Kaum lag Malcolm auf dem Boden, erhielt ein FBI-Agent einen Anruf von einem seiner Spitzel. »Auf Malcolm X wurde geschossen; ich glaube, er ist tot.« Aubrey Lewis war einer der ersten beiden schwarzen Agenten, die 1962 an der FBI-Akademie in Quantico, Virginia, ausgebildet wurden. Nach einer kurzen Zwischenstation erhielt er seinen Traumauftrag: Er wurde in das New Yorker Field Office des FBI versetzt. Von zwanzig Agenten war Lewis der einzige Schwarze. Weiße Agenten leiteten die Geheimoperation gegen Malcolm X. Der Papierkram floss direkt in die FBI-Zentrale, und während der siebenmonatigen Auslandsreisen des panafrikanischen Anführers stimmte sich das FBI eng mit dem Außenministerium und der CIA ab. »Ich hatte an dem Sonntag keinen Dienst«, sagte Lewis, »aber ich hatte einen Informanten im Audubon Ballroom«. Der Spion am Telefon war jedoch nicht der Informant, den Lewis in Malcolms Organisation eingeschleust hatte. Für den war das Audubon-Treffen sein erster FBI-Einsatz, er hatte jedoch – ein Verstoß gegen die Vorschriften – seine Frau mitgebracht. Als die Schießerei begann, kroch das Paar auf dem Boden herum, hielt sich an den Händen und betete. »Informanten werden für diesen Moment ausgebildet«, sagte Lewis. »Jeder Agent will die Informationen als erster in seiner Außenstelle haben und sie an Hoover (FBI-Direktor, jW) weitergeben. Wenn so etwas passiert, will man es vor den Medien erfahren. Man will nicht, dass Hoover davon überrascht wird.«
Aus: Les Payne/Tamara Payne: The Dead Are Arising. The Life of Malcolm X, London/New York 2020, S. 494 f. (Übersetzung: Jürgen Heiser)
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