Keine großen Sprünge mehr
Von Jörg Kronauer
Ist Polen das neue China? Den Eindruck konnte bekommen – zumindest, was den deutschen Export anbelangt –, wer vergangene Woche Berichte von der Jahrespressekonferenz des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft zur Kenntnis nahm. Der Ausschuss, der den deutschen Handel mit insgesamt 29 Ländern Ost- und Südosteuropas sowie Zentralasiens fördert, teilte darin einige neue Erkenntnisse mit, die er aus der Außenhandelsstatistik für das Jahr 2024 gewonnen hatte. Die Daten, kurz zuvor vom Statistischen Bundesamt vorgelegt, zeigten zum einen: Der deutsche Export schwächelt. Er ist 2024 um rund ein Prozent geschrumpft, auf 1,56 Billionen Euro. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Ausfuhr nach China um 7,6 Prozent auf rund 90 Milliarden Euro eingebrochen ist. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Durch den anschwellenden Wirtschaftskrieg des Westens unter Druck gesetzt, bemüht sich die Volksrepublik, von Importen, die jederzeit unter einem Vorwand gestoppt werden können, unabhängig zu werden – auch von deutschen.
Der Ostausschuss hatte allerdings auch festgestellt: Der deutsche Export in seine Zielländer ist im Jahr 2024 gegen den Trend gewachsen, und zwar immerhin um knapp ein Prozent auf rund 281 Milliarden Euro. Mehr noch: Der gesamte deutsche Osthandel – Ex- und Importe zusammengenommen – lag im Jahr 2024 bei rund einem Fünftel des gesamten Außenhandels der Bundesrepublik. Das war mehr als der Handel mit den USA und China, den zwei größten Handelspartnern Deutschlands, zusammengenommen. Und das war eine dritte Erkenntnis: Das Wachstum des deutschen Osthandels geht nicht zuletzt auf das Wachstum des deutschen Handels mit Polen zurück. Der erreichte 2024 ein Volumen von fast 172 Milliarden Euro; das waren mehr als zwei Drittel des Austauschs mit Deutschlands Handelspartner Nummer eins, den USA (252,7 Milliarden Euro). Was allein den deutschen Export anbelangt, hatte Polen sich an China vorbei auf Platz vier unter den deutschen Absatzmärkten geschoben, mit einem Volumen von 94 Milliarden Euro, 3,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Woran liegt’s, dass ein Land mit knapp 38 Millionen Menschen mehr deutsche Waren kauft als ein Riesenstaat mit 1,4 Milliarden Menschen? Nun, was den Rückgang beim Export nach China anbelangt – siehe oben. Was die starke Position Polens betrifft: Sie hat verschiedene Gründe. Zum einen ist das Land, nicht zuletzt wegen seiner niedrigeren Löhne, ein wichtiger Produktionsstandort zahlreicher deutscher Unternehmen. Oft werden Vorprodukte von den deutschen Firmenstandorten an die Fabriken in Polen geliefert, anschließend werden die Endprodukte von dort wieder nach Deutschland transportiert: Das bläht den Handel zwischen beiden Ländern, ganz ähnlich wie den Handel mit anderen Staaten Ost- und Südosteuropas, künstlich auf. Zum anderen hat in Polen die Kaufkraft zugenommen: Die Wirtschaftsleistung pro Kopf hat sich seit 2005 laut OECD-Daten annähernd verdoppelt. Es wird deshalb mehr erworben, darunter etwa Autos oder sanitäre Anlagen aus der Bundesrepublik.
Wachstum meldete der Ostausschuss auch bei der deutschen Ausfuhr in die Ukraine – um 17 Prozent. Nun stecken im deutschen Ukraine-Export kriegsbedingt viele Rüstungsgüter; diese dürften aber auch nach einem etwaigen Kriegsende weiter geliefert werden. Laut einer Ostausschussumfrage planen zudem 35 Prozent seiner Mitgliedsunternehmen noch dieses Jahr Investitionen in der Ukraine: Es geht darum, sich für die Nachkriegszeit in Stellung zu bringen; Experten von KPMG etwa sehen in dem Land bereits einen künftig attraktiven Niedriglohnstandort in Sachen IT. Der deutsche Osthandel könnte damit noch weiter wachsen. Dass er an Bedeutung gewinnt, ist allerdings ambivalent. Denn wenn ein Land mit 38 Millionen Einwohnern wie Polen ein Land mit 1,4 Milliarden Menschen wie China abhängt, dann heißt das auch: Da geht gerade ein riesiger Absatzmarkt verloren, der so groß ist, dass ihn auf lange Sicht alle Ostausschusszielländer zusammengenommen nicht ersetzen können. Und: Deutschland fällt ein Stück weit von der Position einer globalen auf die Position einer kontinentalen Handelsmacht zurück.
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