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Aus: Ausgabe vom 17.02.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Frühe Bundesrepublik

Planwirtschaft und Wirtschaftsdemokratie

Aus der Gewerkschaftsbewegung gedrängt und vergessen: Ein Band über Viktor Agartz
Von Dieter Reinisch
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1957 wegen angeblichen Landesverrats angeklagt und vorübergehend in Untersuchungshaft, bald danach aus der SPD und dem DGB ausgeschlossen: Viktor Agartz

Der Weg Westdeutschlands im ersten Nachkriegsjahrzehnt war nicht so klar vorgezeichnet, wie es in der heutigen Geschichtsschreibung mitunter suggeriert wird. Die Kombination aus »transatlantischer Integration«, Antikommunismus als dominierender Ideologie und »liberaler Marktwirtschaft« musste erst durchgesetzt werden.

In anderen Ländern war das zunächst nicht anders. In Großbritannien etwa gewann Labour mit einem antikapitalistischen Wahlprogramm die Unterhauswahlen 1945. Auch in Österreich waren nach dem Krieg viele Sozialdemokraten überzeugt, noch in ihrem Leben das Ende des Kapitalismus zu erleben. Das zeigt aktuell etwa eine im Mandelbaum-Verlag erschienene Biographie Hilde Krones’, nach Kriegsende Nationalratsabgeordnete und Mitglied des SPÖ-Parteivorstands und nach ihrem Suizid in Vergessenheit geraten.

In der Bundesrepublik wiederum geriet Viktor Agartz in Vergessenheit – obwohl er nach 1945 für manche der »zweite Mann der Sozialdemokratie« und für den Autor einer neuen biographischen Skizze, Christoph Jünke, einer der Gründerväter der Bundesrepublik war. Agartz, bis 1933 beruflich in der Genossenschaftsbewegung aktiv, war im ersten Nachkriegsjahrzehnt ein gewichtiger gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Programmatiker einer »neuen Wirtschaftsdemokratie«. Charakteristisch für ihn war die Mischung aus programmatischer Radikalität und politischem Pragmatismus.

Der Fokus des Bands liegt auf dem Jahrzehnt nach 1945, das Jünke in drei Phasen unterteilt: Für den Zeitraum 1945 bis 1947 liefert Agartz’ Schrift »Sozialistische Planwirtschaft im kapitalistischen Rechtsstaat« das Motto; dann folgen die Jahre bis 1955, in denen Agartz vor allem ein umfassendes wirtschaftsdemokratisches Mitbestimmungsrecht propagiert; daran schließen die letzten Jahre bis zu seinem Tod nach dem Ausschluss aus der Gewerkschaftsbewegung an.

1947 wegen seiner planwirtschaftlichen Überlegungen bereits nach wenigen Monaten aus dem Amt des Leiters des bizonalen Amtes für Wirtschaft gedrängt, wurde er 1955 auch als Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB (das heutige WSI) abgelöst. Als heimatlos gewordener Linkssozialist mischte sich Agartz weiterhin ein und formulierte unter anderem eine der wohl schärfsten Selbstkritiken wirtschaftsdemokratischer Mitbestimmungsideen. Er veröffentlichte eine wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Korrespondenz und wurde 1957 vor Gericht gezerrt, weil der FDGB diese Korrespondenz abonniert hatte und der Generalbundesanwalt in dieser »Ostfinanzierung« Landesverrat und Hilfeleistung für die verbotene KPD durch Agartz sah. Jünke betont mit Recht, dass die Justiz in diesen Jahren auch gegen Linkssozialisten außerhalb der KPD vorging. Der Prozess endete mit einem Freispruch, aber 1958 wurde Agartz aus dem DGB und 1959 aus der SPD ausgeschlossen.

Der in der Reihe »Biographische Miniaturen« erschienene Band liefert einen anschaulichen Einblick in die Geschichte Nachkriegsdeutschlands und die Debatten in der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung aus der Perspektive einer politisch-gewerkschaftlichen Strömung, die anfänglich einflussreich war, sich aber nicht durchsetzen konnte und schließlich zerstört wurde. Jünke schreibt dem Vernehmen nach derzeit an einer ausführlichen Agartz-Biographie, der man mit Interesse entgegensehen darf.

Christoph Jünke (Hrsg.): Viktor Agartz oder: Ein Leben für und wider die Wirtschaftsdemokratie. Dietz, Berlin 2024, 224 Seiten, 14 Euro

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