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Aus: Ausgabe vom 17.02.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Nahostkonflikt

Im rechtsfreien Raum

Mit dem Maßstab von Völkerrecht und Kriegsrecht: Jacques Bauds Buch über die jüngste Eskalation des Nahostkonflikts
Von Georg Auernheimer
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Eine Palästinenserin spricht mit israelischen Soldaten in der Altstadt von Hebron im besetzten Westjordanland (28.12.2024)

Unvoreingenommen, wie es im Klappentext heißt, ist Jacques Bauds Analyse des Krieges im Nahen Osten tatsächlich, und zwar, anders als im herrschenden Diskurs, unvoreingenommen gegenüber der Hamas. Voreingenommen aber ist der Schweizer Exgeheimdienstoffizier auch gegenüber Israel nicht. Er prüft nur sehr kritisch die israelische Politik und speziell die israelische Art der Kriegführung.

Baud skizziert am Anfang die Geschichte des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Er bleibt durchweg sachlich und ist bemüht, die Motive, Kriegsziele und Strategien beider Seiten zu verstehen. Ein Schwerpunkt seiner Analyse ist der Aufweis strategischer Fehler oder eines Mangels an Strategie. Wenn er urteilt, dann nicht moralisierend. Maßstab sind für ihn das humanitäre Völkerrecht und das Kriegsrecht. Er veranschaulicht nicht einfach das Unrecht, das den Palästinensern angetan wird, sondern begründet es mit Verweis auf diese Kodizes. Er scheut keine Mühe, den Lesern für alles Belege zu liefern.

Seine früheren Tätigkeiten haben ihm vermutlich den Zugang zu manchen Dokumenten erleichtert. Jacques Baud hat für den Schweizer Strategischen Nachrichtendienst gearbeitet, war zu Aufgaben bei den Vereinten Nationen und zu den NATO-Missionen in der Ukraine abgeordnet. Bei aller Sachlichkeit fällt Bauds Urteil über die israelische Politik vernichtend aus, und zwar unter dem Aspekt: Welche Folgen hatten und haben die jeweiligen Entscheidungen auf lange Sicht, nicht zuletzt für die Israelis selbst? Immer wieder macht Baud den Teufelskreis der Gewalt deutlich. Das Grundproblem sieht er darin, dass Israel einen »rechtsfreien Raum« geschaffen hat, der dem Land selbst zum Verhängnis geworden ist.

Baud erörtert auch die Frage, ob die gängige Qualifizierung der palästinensischen Militanz als »Terrorismus« gerechtfertigt ist. »Der Unterschied zwischen einem Terrorakt und einem Akt des Widerstands liegt, vereinfacht gesagt, in der Natur des Angriffsziels: Ist es militärischer Natur, dann hat man es mit einem Akt des Widerstands zu tun«, schreibt er. Den israelischen Streitkräften bescheinigt Baud eine permanente Regelverletzung.

Baud bemüht sich auch um eine Korrektur des üblichen Bildes von der Hamas bzw. des militärischen Arms der Organisation. Entgegen der Vorstellung, es handle sich um eine wilde, blutrünstige Horde, zeichnet Baud das Bild von einer Militärorganisation mit klaren Strukturen, verschiedenen Waffengattungen und einem generalstabsmäßigen Vorgehen. Neben den Kassam-Brigaden zählt Baud mindestens 15 Widerstandsgruppen unter einem gemeinsamen Kommando. Nur so ist die Operation vom 7. Oktober 2024 erklärbar, bei der 1.000 bis 1.500 Kämpfer 25 militärische Ziele im breiten Gürtel ins Visier nahmen.

Das strategische Ziel sei dabei die Gefangennahme von israelischen Soldaten zum Zweck des Gefangenenaustauschs gewesen. Dass dann überwiegend Zivilpersonen als Geiseln genommen wurden, erklärt Baud unter anderem mit der Abwesenheit israelischer Einheiten, die man an die Nordgrenze und in die Westbank verlegt hatte. Viele Todesopfer unter den israelischen Zivilisten führt der Militärexperte auf Beschuss aus israelischen Hubschraubern und Panzern zurück. Mit Akribie untersucht er die der Hamas vorgeworfenen Greueltaten und weckt zumindest begründete Zweifel.

Baud meint, die israelische Führung sei ein Opfer ihrer orientalistischen Vorurteile geworden. Er vermisst das Studium der fremden Mentalität und Kampfmoral. Ob Baud da nicht selbst einer kulturalistischen Denkweise unterliegt, sei dahingestellt. Die mangelnde Berücksichtigung der Logik des Feindes bedingt für Baud jedenfalls ein strategisches Defizit auf seiten der israelischen Streitkräfte. Die Umdeutung zum religiösen Konflikt, die Baud kritisiert, mache diesen beinahe unlösbar. Die taktischen Siege Israels werden in einer Niederlage enden, so seine Überzeugung.

Auf weitere Themen, die in dem umfangreichen Band noch angeschnitten werden, sei hier nur verwiesen: die Rolle der Nachbarländer Israels, die europäische Diplomatie, der Antisemitismus, die Behandlung des Konflikts in den westlichen Medien, speziell in Frankreich (das Buch ist zuerst auf französisch erschienen). Manches Kapitel hat den Charakter eines Nachschlagewerks. Grafiken und wenig informative Screenshots, die den Text unterbrechen, stören mitunter den Lesefluss. Aber das schmälert nicht den Wert dieser Publikation, in der an vielen Stellen neues Licht auf den Nahostkonflikt geworfen wird.

Jacques Baud: Die Niederlage des Siegers. Der Hamas-Angriff – Hintergründe und Folgen. Aus dem Französischen von Philipp Otte. Westend, Neu-Isenburg 2024, 483 Seiten, 32 Euro

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (16. Februar 2025 um 21:56 Uhr)
    Jacques Baud hat auch ein Buch zur russischen Kriegsführung in der Ukraine geschrieben: L'art de la guerre Russe - Comment l’occident a conduit l’Ukraine à l’échec. Bauds Analysen/Artikel sind mehrheitlich gut; zum Thema Covid scheint er jedoch eher Verschwörungstheorien zu verbreiten.

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