Das Niveau der Dümmsten
Von Kai Köhler
Das Flugblatt war eines der wichtigsten Propagandamedien des Zweiten Weltkriegs. Zweck war es, die gegnerischen Soldaten zu entmutigen oder ihnen zu suggerieren, dass sie von der eigenen Führung missbraucht würden und eigentlich auf der falschen Seite kämpften. Sie sollten sich in Gefangenschaft begeben oder überlaufen. Allein in den ersten acht Monaten des Kriegs gegen die Sowjetunion setzte die deutsche Seite 436 Millionen Flugblätter ein. 2004 stieß der österreichische Journalist Georg Tidl bei einer Reise am Dnjepr auf eine Sammlung solcher Flugblätter. Er erkannte den kultur- und militärgeschichtlichen Wert des Bündels. Heute träumen deutsche Politiker erneut davon, Russland zu ruinieren, und an entsprechender Propaganda herrscht kein Mangel. Die deutsche Neuausgabe des zuerst 2012 in Österreich veröffentlichten Buches ist da hilfreich.
Einleitend erläutert Tidl die Bedeutung, die Hitler der Propaganda im Krieg zumaß. Den Weltkrieg 1914 bis 1918 habe Deutschland auch wegen Unbedarftheit auf diesem Gebiet verloren. Im nächsten Krieg müsse man das Niveau auf das der Dümmsten in der Zielgruppe senken. Zuständig sowohl für die ideelle Mobilisierung der deutschen Soldaten als auch für die Zersetzung des Gegners war das Oberkommando der Wehrmacht. Tidl zitiert, leider ohne Datierung, einen Erlass, mit dem Hitler sich »die Genehmigung aller Flugblätter in Zukunft vorbehalten« habe. Er benennt aber auch die eigenständigen Aktivitäten von Propagandakompanien in Frontnähe. Es fehlt die schwierige Rekonstruktion der tatsächlichen Abläufe. Die faschistische Praxis war – besonders in den Kriegsjahren – durch eine Konkurrenz verschiedener Institutionen und durch Improvisation gekennzeichnet.
Tidl schildert die Techniken, Flugblätter bündelweise abzuwerfen oder mit eigens dafür konstruierten Vorrichtungen zum Feind hinüberzuschießen. Den Hauptteil nehmen indessen die Flugblätter ein. Den Abbildungen folgt jeweils eine Übersetzung des russischen Textes. Die Datierung der in der Ukraine aufgefundenen Flugblätter ist schwierig. Nur einige wenige beziehen sich so konkret auf Ereignisse, dass man sie zeitlich einordnen kann. Oft weiß man nicht, ob sie zentral oder vor Ort erstellt wurden. Für das erstere spricht, dass nur wenige von ihnen spezifisch ukrainische Themen ansprechen.
Ausführlich arbeitet Tidl Schwerpunkte der Propaganda heraus. Immer wieder wird Soldaten, die sich ergeben, ein angenehmes Leben in der Gefangenschaft oder sogar eine gute Anstellung in Deutschland versprochen. Auf vielen Flugblättern findet sich ein »Passierschein«, der den Weg in dieses Glück zu öffnen verspricht. Die Realität war, wie Tidl darlegt, eine andere. Im ersten Kriegswinter ließ die Wehrmacht Millionen gefangene Rotarmisten verhungern. Später war Zwangsarbeit die Regel, die ebenfalls oft mit dem Tod endete. Daraus ergab sich für die Propaganda ein Problem: Die Behauptung, dass unter deutscher Vorherrschaft ein glückliches Leben erblühen werde und dass, wer den Kampf einstelle, in Sicherheit sei, wurde durch die Praxis widerlegt. Noch 1944 beteuerte die deutsche Seite die eigene Menschlichkeit. Kein Rotarmist, der besetzte Gebiete befreit hatte, dürfte so etwas geglaubt haben.
Tidl gibt nur einzelne Hinweise, ob es auf deutscher Seite eine Erfolgskontrolle gab. Ein Vermerk der Heeresgruppe Süd von 1941, dass laut Befragungen gefangener Offiziere »die bisher angewandten Beschimpfungen von den Russen als viel zu grob und plump empfunden werden«, führte zu keiner Änderung. Die Wehrmacht-Propaganda ging von einer bewussten Irreführung durch die Gefangenen aus und beharrte darauf, niederste Gefühle anzusprechen.
Das gilt insbesondere für den durchgehenden Antisemitismus. Da sieht man eine Ratte vor einem Davidstern, dazu heißt es: »Juden fressen wie Ratten die Würde eures Volkes auf.« Das sowjetische Hinterland wird als von jüdischen Spekulanten beherrscht dargestellt, in deren Händen Stalin nur eine Marionette sei. »Juden und ihre bolschewistischen Mitläufer« werden auf demselben Flugblatt zu Feinden erklärt wie »jüdische Kapitalisten«. Spöttisch gemeint ist eine Zeichnung, die einen jüdischen Schmied zeigt, denn, so der Text: »Der Jude arbeitet niemals selbst!«
Auch dies dürfte den Alltagserfahrungen sogar der Antisemiten, die es in der Sowjetunion noch gab, widersprochen haben. Vermutlich scheiterte die deutsche Propaganda erstens daran, dass alle Versprechungen im Gegensatz zur brutalen Besatzungspraxis standen; und zweitens an der rassistischen Setzung, Russen für durchweg primitiv zu halten. Für den zweiten Fehler bietet das Buch reiches Anschauungsmaterial. Fraglich ist, ob die Propagandisten seither viel dazugelernt haben.
Georg Tidl: Propagandabomben und Flugblattgranaten über Kiew. Nationalsozialistische Propagandawaffen im Kampf gegen die Rote Armee. Das Neue Berlin, Berlin 2024, 254 Seiten, 20 Euro
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