Armut als Wahlhelfer
Von Max Ongsiek
Die vorgezogene Bundestagswahl brachte eine vorhersehbare Fastverdoppelung des AfD-Wahlergebnisses von 2021. Inzwischen gibt es auch im Westen der Republik einzelne »blaue Flecken«, und das sorgt dort, wo man sich lange schon angewöhnt hat, die AfD zu einem »ostdeutschen« Problem zu erklären, für erhebliche Aufregung. Insbesondere über Gelsenkirchen wurde in den vergangenen Tagen viel gesprochen. Die einstige Industriestadt gilt schon seit langem als Schmuddelkind (»Favela an der Emscher«); der Strukturwandel nach Kohle und Stahl hat hier vor allem Armut produziert. Gelsenkirchen gilt heute als »ärmste Gemeinde« Deutschlands mit dem bundesweit niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen (rund 18.000 Euro pro Jahr). Am 23. Februar siegte hier die SPD bei den Erststimmen mit 31,4 Prozent (ein Minus von 9,1 Prozent), die AfD kam auf 25,8 Prozent. Bei den Zweitstimmen wurde die AfD mit 24,7 Prozent stärkste Kraft.
Glaubt man Friedhelm Rikowski, dann sind viele Menschen in Gelsenkirchen »ernsthaft« an einer Parteimitgliedschaft interessiert, so der AfD-Wahlkreiskandidat im Februar in einem lokalen Parteiblättchen. Indirekt scheint das auch der Kandidat der Linkspartei, Martin Gatzemeier, gegenüber jW zu bestätigen: »Das ist schon heftig, was man von den Leuten hört: Alles Ausländer und das Pack muss raus.« Oft richte sich der Hass gegen EU-Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien. Lange galt das Ruhrgebiet als »weltoffen«. In Gelsenkirchen scheint diese Zeit längst vorbei zu sein.
Warum die AfD besonders in den Stadtteilen Scholven und Schalke einen hohen Stimmenanteil erzielte, erklärte Franz Eckhardt, Professor für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar und gebürtiger Gelsenkirchener, auf jW-Anfrage so: Nicht nur sei der Stadtteil Schalke »durch Vernachlässigung, Armut und auch massive Zuwanderung« völlig überfordert. Auch der angekündigte Verkauf der Ruhr-Oel durch BP (1.900 Beschäftigte in Scholven und Horst) und damit einmal mehr einhergehende mögliche Stellenkürzungen würden viele Gelsenkirchener verunsichern. Die Probleme in Gelsenkirchen sind nicht neu, der Strukturwandel peinigt die Stadt schon seit den 60er Jahren, erklärte Stadtforscher Eckhardt. Seitdem habe die Stadt »viele Phasen durchlaufen« und lange gebraucht, den industriellen Wandel zu akzeptieren. Für die Ruhrstadt besonders belastend sei auch die sehr hohe Kinderarmut. Dieses »Gefühl der Vernachlässigung« habe sich »bei vielen radikalisiert«, so dass daran nun die »einfachen Slogans der AfD« anknüpfen könnten.
Allerdings gehört zum Gesamtbild auch: Die AfD profitierte in Scholven und Schalke von einer extrem niedrigen Wahlbeteiligung. In Scholven steht die rechte Partei in beinahe allen fünf Wahlbezirken als Sieger da. Ausnahme bildet Wahlbezirk 2201, wo die Partei mit 29,84 Prozent knapp hinter der SPD landete. Ihr bestes Gelsenkirchener Wahlergebnis holte die AfD in Scholven im Wahlbezirk 2106: 44,02 Prozent bei Erst- und 43,12 Prozent bei Zweistimmen. Die Wahlbeteiligung lag hier mit 59,85 Prozent aber eben auch sehr weit unter dem Bundesdurchschnitt. Hochgerechnet auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten schrumpft das AfD-Ergebnis auf 26 Prozent bei den Erst- und 26,19 Prozent bei den Zweitstimmen zusammen. Es sind also die Nichtwähler, die die AfD hier indirekt stark machen bzw. stärker erscheinen lassen, als sie tatsächlich ist.
Dass im »bessergestellten« Gelsenkirchen-Buer die AfD nicht so stark dominiere und die Grünen hier ihr bestes Ergebnis erzielten, sei auffällig, so die Beobachtung des Sozialwissenschaftlers. Allerdings prägten in Gelsenkirchen wohlhabende Wähler nicht ganze Stadtteile, so Eckhardt, sondern höchsten kleinere »Inseln« wie das »Hafenquartier Graf Bismarck«.
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