Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 05.03.2025, Seite 2 / Kapital & Arbeit
Internationaler Seehandel

»Sie wollen die Waren, und sie wollen sie billig«

Ohne Bezahlung auf hoher See: Reeder setzen auf Billigflaggen und lassen Crews an Bord zurück. Ein Gespräch mit Steve Trowsdale
Interview: Niki Uhlmann
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Im Januar hat die International Transport Workers’ Federation, kurz ITF, einen Bericht über aufgegebene, also nicht bezahlte, Seeleute veröffentlicht. Allein 2024 waren es 312 Crews und Schiffe, im Vorjahr nur 132. Was steckt dahinter?

In den vergangenen Jahren haben wir Transportarbeiter deutlich proaktiver für das Problem sensibilisiert. Dank unserer Seminare erkennen sie früher, wenn sie und ihre Crew zurückgelassen werden. Das macht die Runde. Viele Schiffsleute haben Freunde oder Kollegen auf anderen Schiffen. Zudem klären wir in sozialen Medien mehr über das Thema auf, insbesondere bei Facebook, wo viele Transportarbeiter aktiv sind, um mit ihrer Heimat in Kontakt zu bleiben. So wurden auch andere Medien und mit ihnen Konzerne und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam.

Welche Rolle spielen Billigflaggen dabei?

Eine signifikante. Schiffseigner sind an die Regeln und Gesetze des Landes gebunden, dessen Flagge sie nutzen. Das System der Billigflaggen ermöglicht es, in Länder zu flüchten, die kaum Vorschriften und Kontrollen vorsehen. Davon haben einige keine maritime Industrie, manche nicht mal eine Küste. Dort können Steuern und arbeitsrechtliche Mindeststandards umgangen werden. Tausende Konzerne machen davon Gebrauch. Unter den Billigflaggen von Panama, den Marshallinseln und Liberia segeln rund 15.000 Schiffe.

Manche Crews verbringen Monate auf Schiffen, ohne bezahlt zu werden. Wie viele Transportarbeiter betrifft das, und was können sie tun, um dagegen vorzugehen?

Schon bei zwei Monaten ohne Bezahlung gilt eine Crew nach dem internationalen Seearbeitsübereinkommen als verlassen. Letztes Jahr lagen uns 3.133 einzelne Fälle vor. Ihnen schuldete man 20 Millionen US-Dollar. Etwa elf davon wurden inzwischen ausgezahlt. Auf den Schiffen dürften aber deutlich mehr Arbeiter sein. Viele kommen nicht zu uns, weil sie Angst haben, ihre finanzielle Existenz zu verlieren.

Die einzelnen Gewerkschaften organisieren Arbeitskämpfe. Manchmal funktioniert das, manchmal nicht. Die ITF beschlagnahmt gelegentlich Schiffe. Im Moment haben wir zwei in Kapstadt festgesetzt, auf denen sich etwa 90 Besatzungsmitglieder befinden. Das können wir aber nicht bei allen 312 Schiffen machen. Die Kosten sind einfach zu hoch. Zudem kontaktieren wir die Reedereien, üben Druck auf die Schiffseigner aus und melden Arbeitsrechtsverstöße bei der Internationalen Arbeitsorganisation.

Könnte ein zivilgesellschaftlicher Boykott etwas ausrichten?

Wenn wir uns die Schiffe ansehen, die zurückgelassen werden, handelt es sich meist um Stückgut- oder Massengutfrachter. Es sind aber Containerschiffe, die uns das wirklich Lebensnotwendige bringen: Kleidung, Lebensmittel und so weiter. Ein Boykott würde also wenig bringen, solange sich Konzerne, die auf die Frachter angewiesen sind, nicht daran beteiligen.

Wie werden sich die drohenden Handelskriege auf die Ausbeutung von Schiffsleuten auswirken?

Das ist ein Risiko, aber Zölle gab es schon immer. Gerade wird viel von der russischen Schattenflotte gesprochen, die Sanktionen umgehen soll. Und das russische Öl fließt trotz der Sanktionen und trotz des ganzen Geredes. Das zeigt, wie schwer der Seehandel zu regulieren ist. Wir erfahren nur wenig von der Schattenflotte, wissen aber, dass die Schiffsleute dort eingeschüchtert werden, damit sie den Mund halten. Solange Staaten gern das Öl annehmen, aufbereiten und einkaufen, wird sich nichts ändern. Es ist letztlich eine Frage der Regulierung.

Kürzlich hat die EU das Lieferkettengesetz abgeschwächt. Wird sich dadurch die Ausbeutung von Transportarbeitern verschärfen?

Wenn man die Regierungen nicht dazu bringen kann, Sorgfaltspflichten vorzuschreiben, dann können andere Organisationen nicht viel tun. Einige Länder dieser Welt interessiert es nicht, dass Schiffe unter Billigflaggen ihre Häfen anlaufen. Sie wollen die Waren, und sie wollen sie billig. Für die Menschen an Bord, die diese Waren liefern, haben sie wenig Respekt. Aber das sind Menschen, die Familien haben, die von ihnen abhängig sind. Wenn Konzerne ihre Beschäftigten zwei, vier Monate oder gar 16 Monate lang nicht bezahlen: Wie soll da die Familie zu Hause überleben?

Steve Trowsdale ist Koordinator des Inspektorats bei der International Transport Workers’ Federation

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