Das Arche-Noah-Prinzip
Von Ronald Kohl
Spätestens seit es Haustiere gibt, die nicht ausschließlich der Versorgung dienen, möchten wir Menschen zu gerne wissen, was unsere geliebten Vierbeiner so denken, was sie uns »sagen« wollen. Kein Film in der Geschichte des Kinos konnte diesen Wunsch bisher erfüllen. Wenn Tiere im Trickfilm sprachen, dann immer so wie Menschen. Bestes Beispiel (»The Aristocats«): »Onkel Waldo, du hast getrunken!« (Was meine Katze manchmal auch denken mag.)
»Flow«, soeben mit dem Animationsfilm-Oscar prämiert, geht die Sache anders an. Die Tiere kommunizieren zwar miteinander, doch oft verstehen nur wir, was sie meinen. Das ist um so bemerkenswerter, da Menschen in »Flow« gar nicht vorkommen. Irgendein Ereignis muss uns komplett von der Erdoberfläche verschwinden lassen haben, bevor die Handlung einsetzt. Welcher Art diese Katastrophe war, erfahren wir nicht; vielleicht wegen der Kinder im Publikum oder ganz einfach, weil es für den Plot ohne Belang wäre. Auf jeden Fall existieren zivilisatorische Überbleibsel: Häuser, Paläste, Tempel. Aber nichts Modernes, keine Wolkenkratzer, Telegraphenmaste oder gar Auto- und Flugzeugwracks.
Die Figur, aus deren Perspektive erzählt wird, ist eine rabenschwarze Katze. Vielleicht ist es auch ein Kater. Selbst ich als Katzenfan weiß es nicht. Ihr Zuhause liegt in den Bergen, in einem sehr geräumigen Holzbau, den zuvor ein Bildhauer bewohnt haben muss. Alles ist nahezu unversehrt, nur dass es eben keine warme Milch mehr gibt. Abends liegt die Katze auf einem Bett und kann durch ein Panoramafenster blicken. Überall auf dem Grundstück stehen holzgeschnitzte Katzenfiguren unterschiedlichster Größe. Ein mindestens 20 Meter hohes Exemplar, das wir nur beiläufig am Horizont erblicken, stellt offenkundig die Krönung des Schaffens dar. Dieser Gigantismus erweist sich bei der plötzlich einsetzenden Sintflut als lebensrettend für unseren Muschipaul.
Ähnlich dem Menschen, der da anscheinend wie besessen Abbilder seines Haustiers schuf, konnte sich Regisseur Gints Zilbalodis nicht von der faszinierenden Idee einer Katze, die in einem einfachen Boot einer ungewissen Zukunft entgegentreibt, lösen. Mit »Aqua« hat er im Jahr 2012 einen animierten Kurzfilm gedreht, der auch damit begann, dass eine friedlich schlafende Katze von Wassermassen überrascht wird. Sie rettet sich auf den höchsten Baum, der irgendwann nicht mehr hoch genug ist. Im allerletzten Moment treibt ein Boot vorbei.
Unser schwarzer Muschipaul in »Flow« sitzt auf der Ohrspitze jener riesigen Katzenskulptur, als der Kahn angetrieben kommt. Ein Satz und er ist an Bord. Doch diesmal ist er nicht der einzige Passagier. Ein Capybara, im Deutschen auch als Wasserschwein bekannt, schlummert auf den Planken. Weitere Schicksalsgenossen folgen. Das Boot entwickelt sich zu einer Art Arche Noah der Charaktere: ein bisschen doof und verspielt, aber dafür lieb und treu, der Golden Retriever. Phlegmatisch, träge, doch immer ein verlässlicher Kumpel, das Wasserschwein. Uns am ähnlichsten scheint naturgemäß der kleine Lemur zu sein. Er ist das einzige der fünf Geschöpfe an Bord, das schon eine Vorstellung von Besitz hat. Sein Fetisch ist ein kleiner Spiegel mit goldenem Stiel.
Da keines der Tiere die Möglichkeit besitzt, seinen Willen oder gar irgendwelche Absichten und Pläne zu artikulieren, gibt es auch keinen Kapitän und erst recht keine Hierarchie. Anders als in »Aqua« verfügt das Boot jetzt jedoch über ein Steuer, eine typisch menschliche Erfindung: Wer es in den Krallen hält, bestimmt den Kurs. Ein urzeitlicher Storch, der wegen eines gebrochenen Flügels mit von der Partie ist, lenkt das Boot durch die verschiedensten Gefahren, und niemand zeigt Ambitionen, ihm den Job streitig zu machen, der auch gar nicht so einfach ist, da die Flut infolge starken Dauerregens immer noch steigt. Schließlich treibt das Boot an einem antiken Bau vorbei, auf dessen oberste Etage sich fünf Hunde gerettet haben, die um ihr Leben jaulen. Es sind zwielichtige Köter, und der Storch will sie auf keinen Fall an Bord haben. Daraufhin platzt dem Golden Retriever zum ersten Mal in seinem Leben das Halsband, und er sorgt dafür, dass seine Artgenossen an Bord kommen. Sie fühlen sich schon bald wie zu Hause.
»Flow«, Regie: Gints Zilbalodis, Lettland/Belgien/Frankreich 2024, 85 Min., Kinostart: heute
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