Kolonialapologeten im Aufwind
Von Bernard Schmid
Jean-Michel Aphatie war ein Starjournalist, arbeitete unter anderem für Printmedien wie die Tageszeitungen Le Parisien und Le Monde, für das liberale Wochenmagazin L’Express, für die Fernsehsender Europe 1 und Canal plus und die Radioanstalt France Inter. Er interviewte Große und vermeintlich Große der französischen Politik wie die Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande oder Marine Le Pen – und zwar auf professionellem Niveau. Eines seiner Markenzeichen war, dass er dabei den Akzent seiner südwestfranzösischen Geburtsregion kultivierte.
Nun hat der 66jährige seit Mittwoch Sendeverbot bei der Anstalt RTL, die in den vergangenen Jahren einer seiner wichtigsten, von 2003 bis 2015 sein Haupt-»Arbeitgeber« war. Die Leitung des Radiosenders begründete, er habe »sich geweigert, sich zu entschuldigen«. Entschuldigen wofür? Dafür, dass er eine historische Wahrheit aussprach, wie die linke Tageszeitung L’Humanité zu Recht kommentierte. Er hatte, im generellen Kontext wachsender Spannungen zwischen den Regierungen in Frankreich und seiner früheren Kolonie Algerien, daran erinnert, dass die französische Staatsmacht große und größte Verbrechen in dem ab 1830 von ihr eroberten Land begangen hatte.
»Wir (gemeint ist Frankreich, B. S.) haben Hunderte von Oradour-sur-Glane in Algerien verübt«, erklärte Aphatie in einer Sendung am 26. Februar. Oradour ist eine Ortschaft im französischen Zentralmassiv, in welcher eine Einheit der Waffen-SS am 10. Juni 1944 mindestens 642 Einwohnerinnen und Einwohner umbrachte. Dieses Massaker, an das jährlich erinnert wird, war Teil der Verbrechen Nazideutschlands.
Der französische Journalist verglich allerdings nicht den Holocaust mit den kolonialen Massakern, was man tatsächlich kritikwürdig hätte nennen können – sondern einen von den Schlächtern so genannten »Vergeltungsakt« gegen die Zivilbevölkerung, um den Widerstand in einem unterworfenen Land zu brechen oder zu bestrafen. Auf dieser Ebene trifft der Vergleich jedoch absolut zu. Darauf wiesen auch französische Medien hin, darunter L’Humanité und das durch den Soziologen und Bauern Nicolas Framont gegründete Frustration Magazine.
Dabei geht es nicht nur um die gigantischen Verbrechen, die Frankreich in Algerien während des Unabhängigkeitskriegs von 1954 bis 1962 begangen hat. Es geht auch um die Phase der Unterwerfung Algeriens in den Kriegen von 1830 bis etwa 1850. Der französische bürgerliche Philosoph Bernard-Henri Lévy (»BHL«), der ansonsten nicht als Kritiker des Kolonialismus in Erscheinung tritt, sondern als Befürworter des westlichen militärischen Interventionismus, nahm dazu bereits 2005 in einem tatsächlich kritischen Artikel beim konservativen Wochenmagazin Le Point Stellung. Darin bezifferte er die Zahl der durch die französische Offensive in Algerien Getöteten in der Eroberungsphase auf 700.000. Das war ein Drittel der damaligen Bevölkerung. Er nennt dabei unter anderem den General Thomas Robert Bugeaud, den Erfinder der »Enfumades« in den Jahren um 1845. Dabei handelte es sich um die Tötung von ganzen Dorfbevölkerungen mittels der Einleitung von Rauch in Höhlen, in denen diese zusammengetrieben wurden.
Während der Politiker Manuel Bompard von der linken Wahlplattform LFI um Jean-Luc Mélenchon kritisierte, ein Sender gebe »dem Druck von Revisionisten und Kolonialnostalgikern nach«, gab es auch Applaus für die Entscheidung von RTL. Vor allem von einschlägiger Seite. Julien Odoul vom ultrarechten Rassemblement National (RN) kommentierte kurz: »Raus mit der Frankophobie!«, und benutzte damit ein neues Kunstwort der Neofaschisten für vermeintliche Landesfeindlichkeit. Paulin Césari von der reaktionären Wochenendpublikation Figaro Magazine bezeichnete Aphatie – er hatte bis dahin eine eher bürgerliche Aura – nun als »Evangelisten der Woke-Ideologie«. Die staatliche Medienaufsichtsbehörde Arcom, die Verstöße gegen Gesetze oder die journalistische Ethik ahnden kann, ermittelt nun – gegen Aphatie, um zu klären, ob eine Sanktion zu verhängen sei.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (7. März 2025 um 12:21 Uhr)Wie kann man aber auch zulassen, dass darüber gesprochen wird, wieviel Blut die Grande Nation an den Händen hat? Und nicht nur sie. Die USA ermordeten erst ihre Ureinwohner und mordeten später in Korea und Vietnam, die Briten in Indien, die Belgier, die Spanier, die Portugiesen, die Italiener, die Niederländer in ihren Kolonien … Wo soll das hinführen, wenn jedermann weiß, welche Wurzeln die astreinen Demokratien des Westens haben? Und was die hehren Worte von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten wert sind, sollte man denen einmal im Wege stehen.
- Antworten
Ähnliche:
- IMAGO/PsnewZ17.01.2025
Zwischen den Fronten
- Fateh Guidoum/AP Photo/dpa07.11.2024
Signal an Rabat
- IMAGO/Bestimage22.03.2024
Unheilige Allianzen