Zwischen den Fronten
Von Sabine KebirAm 16. November 2023 wurde der aus Frankreich kommende Autor Boualem Sansal auf dem Flughafen von Algier wegen »Gefährdung der Sicherheitsinteressen des Staates« verhaftet. Sansal ist ein international renommierter Autor, der unter anderem den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Der Algerien stark kritisierende Sansal hatte bislang keine politischen Schwierigkeiten. Wie alle algerischen Autoren hat er jedoch das Problem, dass die Leserschaft zu klein ist, weshalb auch er sich um Publikationsmöglichkeiten in Frankreich bemüht. Das ist seit der Unabhängigkeit üblich.
Der bisher bekannte Grund der Verhaftung des Fünfundsiebzigjährigen ist ein Interview mit ihm, das Anfang Oktober in der rechten französischen Zeitung Frontières erschien. Darin unterstützte er nicht nur die Position von Präsident Emmanuel Macron, der kürzlich die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko anerkannte, sondern auch Positionen, wonach große Teile Westalgeriens historisch zum Einflussbereich der marokkanischen Monarchie gehörten und Algerien erst durch die französische Kolonisierung zur Nation mit einer Grenze geworden sei. Das ist historisch gesehen unhaltbar, weil die marokkanische Einflusszone im heutigen Grenzgebiet schon seit dem 16. Jahrhundert durch Spanien und später durch das osmanische Kalifat begrenzt worden war.
Da es bereits kurz nach Algeriens Unabhängigkeit zu einem bewaffneten Territorialkonflikt mit Marokko kam und Algerien sich stark für das Selbstbestimmungsrecht der Westsahara engagiert, brüskierten Sansals Äußerungen nicht nur den algerischen Staat, sondern auch die Bevölkerung. Diesbezüglich gibt es keinen inneren Dissens, weshalb Sansals Verhaftung überflüssig und außerordentlich bedauerlich ist. So falsch seine Behauptungen sind, handelt es sich doch nur um seine Meinung, die nicht justitiabel sein dürfte, sondern öffentlich zu diskutieren wäre. Das ist auch in Frankreich kaum geschehen. Der von Macron mit der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Algerien beauftragte und um Objektivität bemühte Historiker Benjamin Stora betonte jedoch, dass gerade von Westalgerien wesentliche Impulse für die Unabhängigkeitsbewegung, nicht aber für den Anschluss an Marokko ausgingen. Trotz der vielen leicht zu verifizierenden Fakten erklären französische Medien Sansal zum »Voltaire Algeriens« und suggerieren, er sei wegen seiner gesamten literarischen Arbeit in Haft.
Zu verurteilen ist nicht nur die Freiheitsberaubung eines Autors, sondern auch die Instrumentalisierung durch die französische Rechte einschließlich des Präsidenten, der ihn zur Unterstützung seiner Marokko-Politik benutzt. Es war wohl kein Zufall, dass er ihm – unter Umgehung langer Prozeduren – vor kurzem die französische Staatsbürgerschaft zuerkannte.
Doppelstaatsbürger seit 2020 ist auch ein anderer international bekannter algerischer Autor: Kamel Daoud. Er hält sich in Frankreich auf und genießt ebensoviel Aufmerksamkeit wie Sansal. Obwohl er noch bis vor wenigen Monaten in algerischen Medien vielgelesene kritische Kolumnen verfasste und niemand ihm verwehrte, das auch im Ausland zu tun, stimmt er laut in die Klagen der französischen Medienwelt über den Mangel an Meinungsfreiheit in Algerien ein. Das Problem, das Daoud zur Zeit in Algerien hat, ist jedoch ganz anders gelagert als das von Sansal. Gegen ihn liegt eine Klage wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten in seinem letzten, mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman »Houris« vor. Der Titel bezieht sich auf die Jungfrauen, die laut Koran männliche Muslime im Paradies erwarten – eine Vorstellung, die heute nur noch von Islamisten für die Zurichtung jugendlicher Terroristen ausgenutzt wird. Im Roman geht es um das Schicksal einer jungen Frau, die eine furchtbare Attacke während des Bürgerkriegs der neunziger Jahre überlebte, als islamistische Fanatiker unzählige Frauen entführten, schändeten und grausam töteten. Wenn die Betroffene Saâda Arbane nur ihre Geschichte, die sie mit vielen teilt, in dem Roman erkannt hätte, wäre die Anklageerhebung schwierig gewesen. Es finden sich aber auch physische Merkmale, die sie infolge ihrer schweren Verletzung unverwechselbar machen. Es handelt sich um einen ringförmigen Spezialapparat, den sie um den Hals tragen muss, um atmen zu können, und um zwei Tattoos. Dass der Romanfigur Aube eben diese Körpermerkmale zugeschrieben wurden, lässt sich nur darauf zurückführen, dass Arbane in psychiatrischer Behandlung bei Daouds Ehefrau Aicha Dehdouh war und ihre Krankenakte aus der Klinik verschwunden ist. Die Bitte, ob ihre Geschichte literarisch verarbeitet werden könne, hatte sie abgelehnt, wie auch eine Beteiligung an zu erwartenden Filmrechten. Gegen Dehdouh läuft ein Verfahren wegen Verletzung des Arztgeheimnisses.
Französische Medien nehmen die Interviews auf algerischen Internetplattformen mit Saâda Arbane und ihrer Anwältin nicht zur Kenntnis, auch nicht ein Interview mit Daouds Schwester Wassila – die ihrem Bruder klarmachen will, dass seine Arbeit in Algerien wichtiger ist als in Frankreich, auch wenn er sich der Anklage stellen muss.
Rachid Nekkaz – ein anderer dissidentischer Doppelstaatler, der algerische Gefängnisse von innen kennt – warnt, dass sich Intellektuelle von der französischen Rechten vereinnahmen lassen. Algeriens Mangel an Rechtsstaatlichkeit rechtfertige keine Hetzkampagne gegen das Land, die jenen Destabilisierungskampagnen ähnele, die zu den Interventionen in Libyen und Syrien führten.
Hintergrund: Abschiebeposse
Nach Macrons Anerkennung der Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko hat die algerische Regierung im Sommer 2024 ihren Botschafter abberufen und die Konsulate in Frankreich angewiesen, Algeriern ohne Papiere, die abgeschoben werden sollen, keine Ersatzdokumente mehr auszustellen. Abschiebungen sind zur Zeit unmöglich. Die von rechts angeheizte antialgerische Kampagne hat auch zu erhöhter Aufmerksamkeit gegenüber Internetinfluencern mit algerischem Hintergrund geführt. Darunter sind Menschen, die mit mehr oder weniger Geschick sich selbst oder Algerien gegen Alltagsrassismus verteidigen. Andere folgen rechten französischen Trends und fordern zum Beispiel die Unabhängigkeit der Kabylei.
Dass Gewaltaufrufe juristisch untersucht werden müssen, steht außer Frage. Erstaunlich ist aber, dass antialgerische Hysterie den aktuellen Innenminister Bruno Retailleau dazu bewog, einen von sechs angeklagten Influencern ohne das vertraglich vereinbarte Auslieferungsverfahren nach Algier zu expedieren, bevor er vor Gericht gestanden hatte. Betroffen war der neunundfünfzigjährige Boualem N., der unter dem Pseudonym Doualem 168.000 Follower auf Tik Tok hat und auf eine »strenge Strafe« für einen Oppositionellen in Algerien plädierte – was von Retailleau als »Legitimation von Folter« interpretiert wird. N. ist seit 1988 mehrfach illegal nach Frankreich eingereist, hat etliche Vorstrafen, erhielt aber 2010 als Vater eines französischen Kindes eine Duldung. Von zwei Polizisten begleitet, wurde N. am 9. Januar in ein Handelsflugzeug Richtung Algier gesetzt, in dem er jedoch wieder zurückflog, weil ihn die algerische Grenzpolizei nicht einreisen ließ.
Dieser Vorfall zeige, so der zur Mäßigung mahnende Influencer Rachid Nekkaz, dass die Rechte plane, alle fünf Millionen in Frankreich lebenden Menschen mit algerischem Hintergrund abzuschieben, genau wie auch die deutsche extreme Rechte Massenabschiebungen propagiert. (ske)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (17. Januar 2025 um 09:44 Uhr)»Algerische Schriftsteller Boualem Sansal und Kamel Daoud werden von der französischen Rechten instrumentalisiert« heißt es in der Unterüberschrift. Man hat aber nicht den Eindruck, dass sich die beiden gegen die Instrumentalisierung wehren. Boualem Sansal ist sich nicht zu schade, einer rechten französischen Zeitung ein Interview zu geben und macht sich zum Kronzeugen für die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko. Einerseits berichtet Sabine Kebir, dass es zu Sansals Brüskierung des algerischen Staates keinen Dissens in Algerien gibt. Doch dann schreibt sie: »So falsch seine Behauptungen sind, handelt es sich doch nur um seine Meinung, die nicht justitiabel sein dürfte (!), sondern öffentlich zu diskutieren wäre«. Welchen Sinn ergibt es, falsche Behauptungen, zu denen es keinen Dissens gibt, »öffentlich zu diskutieren«?
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