Staat, Bürger, Medien
Von Reinhard Lauterbach
Wie Medien ticken, erfuhr der Rezensent zu Beginn seiner journalistischen Laufbahn. Es war ein Sonntagmorgen, irgendwann Ende der 80er Jahre in der Nachrichtenredaktion eines öffentlich-rechtlichen Senders. Sonntag früh ist Sauregurkenzeit – »nichts los«, aber die Sendeminuten müssen gefüllt werden. So schrieb ich eine Meldung über ein Unglück in den peruanischen Anden. Bus in Schlucht gestürzt, alle 54 Insassen tot. Wäre so etwas in den Alpen passiert, hätten die Medien tagelang darüber geredet. Aber nicht in diesem Fall. Die Meldung wurde nicht gesendet, statt dessen eine andere über einen Reisebus aus Niedersachsen, der auf der A5 in eine Baustelle gefahren war. Fünf lädierte Kegelbrüder stachen 54 tote Peruaner aus.
Niemand schreibt das explizit so hin, man spricht lieber von »Nähe« als Kriterium nachrichtlicher Relevanz. Aber jeder Volontär lernt, diese Regel reflexhaft zu befolgen. Mit einem Strauß ähnlicher – und inhaltlich gewichtigerer – Beispiele beginnt Renate Dillmann ihre Studie über die Funktion der Medien in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie geht die einzelnen journalistischen Formen durch und zeigt, wie die mediale Wahrnehmung Ereignisse nicht nur auswählt – das sei nicht zu vermeiden, betont sie –, sondern gezielt auswählt: nach Relevanz »für uns«. So sei etwa der mit westlichen, darunter deutschen Waffen geführte Krieg Saudi-Arabiens im Jemen mit Hunderttausenden zivilen Opfern von den deutschen Leitmedien ignoriert worden – bis die Huthi-Rebellen anfingen, Handelsschiffe im Roten Meer zu beschießen und damit »unsere« Lieferketten zu gefährden. Hier ist nicht der Platz, sich in weiteren Beispielen zu ergehen, daher ein Zitat der Autorin: »Der Journalismus der Leitmedien neigt zu einer Selektion der Themen am Kriterium nationaler Interessen, moralisierenden Benennungen von Sachverhalten, Fragestellungen und Titelzeilen.« Er operiere »mit fiktiven Subjekten und eliminiert Zusammenhänge, die nötig wären, um einen Themenkomplex zu erfassen und zu begreifen. Quellen werden selektiv verwendet, und Zahlen und Statistiken verfälschend benutzt«. Eine vernichtende Bilanz dessen, was aus deutschen Lautsprechern und Bildschirmen tönt und womit viele Zeitungen ihre Spalten füllen.
Bei dieser Aufzählung lässt es Renate Dillmann aber nicht bewenden. Es geht ihr im Kern darum zu verstehen, warum sich das Publikum diese Sauce über die Köpfe gießen lässt. Dazu holt sie äußerlich knapp, aber inhaltlich weit aus. Der vom kapitalistischen Staat in eine Konkurrenz um Einkommensquellen gestellte Bürger habe sich daran gewöhnt, die Welt als Sammlung besserer oder schlechterer Gelegenheiten des eigenen Vorankommens zu betrachten – des eigenen und des Erfolgs des jeweiligen Staates. Insofern die Bürger mit tausend Banden an die Tätigkeit des Staates gefesselt seien, erscheine ihnen auch diese strukturelle Voreingenommenheit der Medien für den »eigenen« Staat und das nationale Wir zwangsläufig und in Ordnung. Bis dahin, dass sie sich die Feinde und Freunde außerhalb der eigenen Grenzen aufzeigen lassen – eine Voraussetzung der »Kriegstüchtigkeit«.
Es ist eine bittere Diagnose, die Dillmann der bürgerlichen Öffentlichkeit stellt. Der Adornosche »Verblendungszusammenhang« wird nie wörtlich beschworen, aber er steht im Hintergrund: Es gibt kein richtiges Senden im falschen. Der hier beschriebene objektive Zirkel – ist er nicht zu durchbrechen? Das behauptet die Autorin nicht. Sie ruft die Medienkonsumenten auf, den eigenen Verstand zu benutzen, nicht alles zu glauben und sich die Mühe zu machen, alternative Informationsquellen aufzutun.
Renate Dillmann: Medien. Macht. Meinung. Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit. Papyrossa, Köln 2025, 239 Seiten, 17,90 Euro
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Politisches Buch
-
Der notwendige Aufwand
vom 10.03.2025 -
Neu erschienen
vom 10.03.2025