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Aus: Ausgabe vom 15.03.2025, Seite 6 / Ausland
Brief aus Jerusalem

Häuser trotz Ramadans zerstört

Brief aus Jerusalem. Die NGO »Ir Amim« setzt sich gegen die Diskriminierung der Palästinenser in Ostjerusalem ein
Von Helga Baumgarten
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Um in der Al-Aksa-Moschee zu beten, müssen sich Muslime den Schikanen an Checkpoints unterziehen (Jerusalem, 14.3.2025)

Gleich in der ersten Woche des Fastenmonats Ramadan haben israelische Einsatzkräfte mehrere Wohnhäuser in Ostjerusalem zerstört. In der zweiten Ramadanwoche bekamen Familien im Viertel Al-Bustan, südöstlich der Altstadt und vom Haram Al-Scharif mit dem Felsendom gelegen, dann »Besuch« von der Polizei. Die Familien Odeh, Dschaladschel und Kaimari wurden informiert, dass die Stadt ihre Häuser abreißen werde. 15 Menschen werden kein Zuhause mehr haben. Das ist eine neue Stufe der Eskalation. Bis dato hat die Stadt sie wenigstens im Ramadan verschont.

Aviv Tatarsky, Forscher bei der Jerusalemer NGO »Ir Amim«, gab diese Meldung an die Presse. Verbreitet wurde sie zuerst auf der Webseite der Physicians for Human Rights Israel (PHRI). Obwohl Aviv rund um die Uhr beschäftigt ist, traf er sich mit mir, um von seiner Arbeit und von der sich zuspitzenden Lage in Ostjerusalem zu berichten.

Aviv sieht das entscheidende Problem in der Besatzung und der israelischen Weigerung – speziell in Jerusalem, »der ewig unteilbaren Hauptstadt des jüdischen Staates« –, die palästinensischen Bewohner bei der Städteplanung positiv mit einzubeziehen. Sie sind ja Bürger Jerusalems mit speziellen Ausweisen. Es gibt aber bei den Planungen eine klare Diskriminierung, die auf entsprechenden Gesetzen basiert. Außerdem werden Palästinenser, wenn sie mit einer Klage vor Gericht gehen, systematisch benachteiligt bzw. verlieren fast jeden Prozess, den sie anstrengen. Aviv will aber nicht aufgeben: »Wir müssen ins Stadtparlament gehen, mit Abgeordneten reden. Wir versuchen, Termine mit dem Bürgermeister zu bekommen.« Das ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Aber Aviv ist niemand, der deshalb klein beigibt.

Die Häuserzerstörungen in Ostjerusalem haben seit Beginn des Völkermordes in Gaza rapide zugenommen. Auch dies ist eine neue Eskalation. Früher wurden in Kriegszeiten Häuserzerstörungen ausgesetzt, um zusätzliches Konfliktpotential zu vermeiden. Das ist inzwischen anders. Schon vor dem Gazakrieg war die Zahl der Zerstörungen enorm angestiegen und hatte 2023 einen ersten Rekord erreicht mit 364 zerstörten Häusern in Jerusalem. Dabei verloren mehr als 700 Menschen ihr Zuhause. Ostjerusalem ist von den verschiedenen Gebieten in der Westbank am meisten betroffen. 2024 wurden 181 Häuser zerstört. Gleichzeitig erteilte die Stadt die wenigsten Baugenehmigungen seit etwa zehn Jahren. Parallel dazu wurden Tausende von Häusern in israelischen Siedlungen in und um Jerusalem genehmigt. Seit Beginn dieses Jahres, also in gerade zweieinhalb Monaten, wurden schon 46 Häuser und Wohnungen in Ostjerusalem abgerissen.

Was ist »Ir Amim«? Der Name der NGO ist hebräisch und steht für »Stadt der Nationen« bzw. »Stadt der Völker«. Die Organisation ist seit 2004 aktiv. Ziel ihrer Arbeit ist es, dass in Jerusalem alle Bewohner in Würde leben können und ihre heiligen Stätten, ihr historisches und kulturelles Erbe geachtet werden. Jerusalem soll zur gemeinsamen Hauptstadt von zwei souveränen Staaten, einem palästinensischen und einem israelischen, werden. »Ir Amim« beobachtet kontinuierlich, was passiert, und publiziert darüber, um nicht zuletzt den öffentlichen Diskurs zu verändern. Unter der Regierung von Benjamin Netanjahu ist dies schwieriger als je zuvor. Aviv ist sich dessen bewusst. Seine Entscheidung ist klar: »Wir müssen weiterkämpfen. Auf uns ruht eine enorme Verantwortung.«

Die Palästinenser in Ostjerusalem aber wissen eines: Im Vergleich zu ihrer Situation ist es in Gaza eine einzige Katastrophe. Von Nachbarn höre ich: »Israel hat Gaza wieder abgeriegelt: keine Nahrungslieferungen, keine Medikamente, kein Wasser, und nun stellen sie noch den Strom ab. Und die Welt schweigt dazu.« Die Schließung eines Buchladens in Ostjerusalem, so erschreckend das ist, erregt international fast mehr Aufsehen als das langsame Aushungern Gazas, wo die israelische Armee tagtäglich mindestens drei Menschen erschießt.

Dies ist der 30. »Brief aus Jerusalem« von Helga Baumgarten, emeritierter Professorin für Politik der Universität Birzeit

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