Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 22.03.2025, Seite 10 / Feuilleton
Psychologie

Der Keim des Gesprächs

Erinnerungen an Erich Fromm zum 125. Geburtstag
Von Marianne Gronemeyer
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»Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe?« – Erich Fromm (1900–1980)

Als ich gefragt wurde, ob ich einen kurzen Text aus Anlass von Erich Fromms 125. Geburtstag schreiben könnte, war ich froh und beschämt zugleich: froh, weil es Menschen gab, die daran dachten, und beschämt, weil ich, die ich ihm viel verdanke, diesen Tag unbeachtet hätte verstreichen lassen. Und ich hoffe, dass diejenigen, die seiner am 23. März gedenken werden, dies nicht nur in der Routine der diversen Gedenkpflichten tun, sondern weil sie ihn – wie ich – vermissen in diesen finsteren Zeiten.

Es war ein Glück meines Lebens, dass ich Erich Fromm Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts einige Male persönlich begegnet bin. Ich sehe ihn also vor mir, wenn ich mich an ihn erinnere; in seiner kleinen Wohnung in Locarno, in der er seine letzten Lebensjahre verbrachte, nachdem er davor in New York gelehrt und in Mexiko gelebt hatte. Nach Deutschland, das er 1934, sehr bald nach der Machtübernahme der Nazis, verlassen hatte, ist er nicht mehr zurückgekehrt. Er war ein kleiner, zierlicher, fast zerbrechlicher Mann, der ein wenig schwer atmete. Ich sehe ihn in seinem Ohrensessel in der Ecke eines kleinen Wohnzimmers sitzen, während er aus seinem eben fertiggestellten Opus magnum »Anatomie der menschlichen Destruktivität« vorlas. Anderntags waren wir in einem Fischrestaurant am See zum Essen gewesen, Hechtklößchen, wie ich mich erinnere. Als wir uns an seiner Tür für die Nacht von ihm verabschiedeten, berichtete er uns von dem Buchprojekt, das er in der ihm verbleibenden Zeit noch fertigzustellen hoffte: »Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft«. Er schreibe dieses Buch, damit es von der deutschen Jugend gelesen werde, fügte er hinzu. Dieser Satz ist mir unvergesslich. Er hat das Buch vollendet und auch erfahren, dass es Ende der 70er Jahre in der in Deutschland stärker werdenden Friedensbewegung viel gelesen wurde. Es war eine Art Grundtext dieser Bewegung.

Obwohl ich den Geburtstag übersehen hatte, fügte es der »Zufall« so, dass ich gerade vor wenigen Tagen Grund hatte, mich seiner zu erinnern, denn ich war mit einem Vortragstext in eine Sackgasse geraten. Erich Fromm lieferte mir, wie schon so oft, das Stichwort, das mir weiterhalf. Es ging um die Frage, wie wir die Epoche, deren Zeitzeugen und Insassen wir Heutigen sind, charakterisieren könnten, so dass wir zu ihrem Wesen durchdringen und uns nicht mit ihren Oberflächenkräuselungen aufhalten. Erich Fromm bezeichnete die moderne Gesellschaft schon 1974 als »nekrophil«, als geprägt von ihrer Liebe zum Leichenhaften. Unter der Kapitelüberschrift »Nekrophilie und die Vergötterung der Technik« schrieb er in »Anatomie der menschlichen Destruktivität« über den Industriemenschen: »Im Brennpunkt seines Interesses stehen nicht mehr Menschen, Natur und lebendige Strukturen; sondern mechanische, nichtlebendige Artefakte üben immer größere Anziehung auf ihn aus.« Sein Ziel sei es, »alles Lebendige in tote Materie zu verwandeln (…); er verwandelt alles Leben in Dinge«. Dies sei eine »Gesamtorientierung, welche die natürliche, nicht vom Menschen produzierte Realität verleugnet«. Kann man genauer beschreiben, was um uns herum vorgeht? Wir durchleben einen historischen Moment, in dem die Ertüchtigung zum Kriegführen oberste politische Priorität genießt, in der die Wachstumswirtschaft ihre Rettung der Rüstungsindustrie anvertraut, in der Menschen glauben, dass Frieden und Freiheit durch Völkermordmaschinen gesichert werden müssen und das gute Leben sich ausschließlich immer raffinierteren technischen Innovationen verdankt. In dieser Weltminute haben diese vor 50 Jahren niedergeschriebenen Sätze geradezu prophetische Wucht.

Ivan Illich, der um eine Generation jüngere Freund Erich Fromms, der ebenfalls seine Zelte in Mexiko aufgeschlagen hatte, kam 1971 in »Entschulung der Gesellschaft« zu ganz ähnlichen Einsichten: »Der heutige Mensch (…) versucht, die Welt nach seinem Bilde zu schaffen, eine völlig vom Menschen gemachte Umwelt zu errichten. Dabei entdeckt er dann, dass er das nur unter einer Bedingung tun kann: indem er sich selber ständig umgestaltet, um sich anzupassen. Wir müssen uns nunmehr klarmachen, dass der Mensch selbst auf dem Spiel steht.« 20 Jahre später nannte Illich diese geplante und technisch ermöglichte Ersatzwelt das »technogene Milieu«, eine von den Technokraten der diversen Silicon Valleys weltweit angestrebte Monokultur des Seins und des Denkens.

Die Freundschaft zwischen Fromm und Illich ist sehr bemerkenswert. In einem Vorwort zu einem von Illichs frühen Büchern hat Fromm diese in beider Leben wichtige Freundschaft so beschrieben: »Weder diese Aufsätze noch ihr Verfasser bedürfen einer Einleitung. Wenn trotzdem Ivan Illich mir die Ehre erwiesen hat, mich um eine Einleitung zu bitten, und wenn ich das gern übernommen habe, so scheinen wir dabei beide gedacht zu haben, eine solche Einleitung sei eine Gelegenheit, einer gemeinsamen Haltung und Überzeugung Ausdruck zu geben, obwohl einige unserer Ansichten beträchtlich auseinandergehen.« Im Laufe der Jahre habe auch Illich seine Auffassungen modifiziert. »Im Kern seiner Einstellung ist er sich jedoch treu geblieben, und in diesem Kern stimmen wir überein.« Was für eine Noblesse, der Ältere erweist dem Jüngeren seine Reverenz. Er bekennt sich zu beträchtlichen Unterschieden in ihren Auffassungen, aber gerade dadurch, dass sie diese Unterschiede respektieren, fühlen sie sich voneinander bereichert, denn sie wissen, dass nur in der Unterschiedenheit der Keim zum fortgesetzten Gespräch liegt. Was sollten Menschen, die glauben, einer Meinung zu sein, sich noch zu sagen haben?

Und was könnten wir aus den wenigen Sätzen Erich Fromms über Freundschaft in gewahrter Verschiedenheit nicht alles lernen in unserer durch Rechthaberei und Richtigkeitsgewissheit – verbunden mit einem besorgniserregenden Hörschaden – zugrunde gerichteten Gesprächskultur. »Aber Friede heißt miteinander sprechen«, sagt ein anderer großer Gelehrter und Menschenfreund des vorigen Jahrhunderts, Eugen Rosenstock-Huessy.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (24. März 2025 um 09:47 Uhr)
    Eine historische Persönlichkeit muss in einer marxistischen Zeitung auch daran gemessen werden, wie sie zum gesellschaftlichen Fortschritt und damit zum Sozialismus steht. Und hier muss man sagen, dass Erich Fromms Werk im Fach »Psychologie« stecken bleibt. Es kann sogar gegen den Sozialismus in Stellung gebracht werden. Das Buch »Das Menschenbild bei Marx« (24,90 Euro) wird so beworben: »Kaum ein Denker wurde so missverstanden wie Karl Marx. Und kaum eine Idee wurde so missbraucht wie die des Sozialismus. In diesem Buch, das in der DDR auf dem Index stand [Qualitätsmerkmal?], führt der Psychoanalytiker Erich Fromm ausführlich in das Denken des jungen, humanistischen Philosophen ein. Fromm zeigt, dass Marx einen Menschen im Blick hatte, der seine Erfüllung in der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen findet. Die Frühschriften von Marx zeichnen eine humanistische Realutopie, die kaum schlimmer hätte pervertiert werden können als im real existierenden Sozialismus« (https://psychosozial-verlag.de/programm/2000/2310/2825-detail). Kein Zufall auch, dass dieses Buch von der trotzkistischen Organisation Marx21 (Partei Die Linke) gelobt wird.
  • Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (23. März 2025 um 01:00 Uhr)
    »Sein [des Industriemenschen] Ziel sei es, «alles Lebendige in tote Materie zu verwandeln (…); er verwandelt alles Leben in Dinge». Dies sei eine «Gesamtorientierung, welche die natürliche, nicht vom Menschen produzierte Realität verleugnet».« Fromm hat sich wohl nicht selbst zu diesen »Industriemenschen« gezählt. Mich hätte doch sehr interessiert, was er auf Nachfrage gemeint hätte in Bezug auf die lebendige, leidensfähige und leben wollende »Materie« des Hechtes, die er in Form von »Hechtklößchen« offenbar ganz ohne Not zur toten Materie beförderte, d. h. eigentlich mit Bezahlung der Rechnung sich am nächsten, brutalen Mordes eines Fisches beteiligte, die in der Regel stundenlang den Erstickungstod sterben müssen. Im Grunde hat er natürlich recht: Der Mensch ist ein zutiefst destruktives, Tod und Elend über den ganzen Planeten bringendes Wesen mit einer eingebauten, nekrophilen Persönlichkeitsstörung. Treffen sich zwei Planeten: »Boah, du siehst aber schlecht aus. Bist du krank?« - »Ja, mein Arzt meinte, ich hab Mensch.« - »Oh, wie furchtbar. Das hatte ich auch mal. Aber keine Sorge: Das geht schnell vorbei.«
  • Leserbrief von Bernd Zielmann aus Hattingen (22. März 2025 um 15:52 Uhr)
    Großen Dank an Marianne Gronemeyer, der ich viel verdanke, weil mich die Lektüre ihrer Schriften durch mein Studium begleitet hat. Was im Übrigen auch für den Geehrten, Erich Fromm, gilt. Es ist sehr zu hoffen, dass dieser Aufsatz in der jW dazu führt, dass viele Erich Fromm mal wieder zur Hand nehmen und lesen. Und da wir uns schon einmal in der Psychologie tummeln, sei als weitere dringende Lektüre in diesen rechten Zeiten Wilhelm Reichs »Massenpsychologie des Faschismus« empfohlen. Ein weiteres wichtiges Buch, das noch zu meiner Studentenzeit (1973) eine selbstverständliche Lektüre unter uns war.

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