Krieg an allen Fronten
Von Gerrit Hoekman
Seit dem 19. Januar konnte die Bevölkerung im Gazastreifen durchatmen – der zwischen Israel und der Hamas vereinbarte Waffenstillstand hatte einigermaßen gehalten. Doch nun setzt die israelische Luftwaffe ihre Bombardements fort, obwohl es in dem Landstrich außer Ruinen kaum noch etwas zu zerstören gibt. Am Sonnabend starben bei einem Angriff mindestens 20 Menschen, darunter Salah Al-Bardawil und seine Frau, wie die Hamas am Sonntag bestätigte. Bardawil war ein hoher Funktionär des politischen Arms der Organisation. Lokale Behörden meldeten zudem, dass die Zahl der Todesopfer in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 am Sonntag die Marke von 50.000 überschritten habe.
Israels Armee ordnete am Sonntag laut Agentur WAFA zudem die Evakuierung des Viertels Tell Al-Sultan in Rafah an der Grenze zu Ägypten an. Die Bevölkerung solle umgehend zu Fuß in das »humanitäre Schutzgebiet« Al-Mawasi fliehen. »Es ist verboten, sich in Fahrzeugen zu bewegen«, zitierte die Onlinezeitung Times of Israel Armeesprecher Avichay Adraee. Aber auch in Mawasi ist es unsicher, wie nicht erst die Vergangenheit zeigte. Auch am Wochenende wurden dort zwei Personen durch einen Luftangriff getötet. Außerdem spotten die Zustände in dem Zeltlager jeder Beschreibung: Es fehlt an Wasser und Essen. Krankheiten breiten sich aus. Es drohen Epidemien.
»Je länger sich die Hamas weigert, die Geiseln freizulassen, desto mehr Gebiet wird sie verlieren, das dann von Israel annektiert wird«, hatte Verteidigungsminister Israel Katz der Times of Israel zufolge am Freitag gedroht. Nachdem Israel die Waffenruhe am Dienstag einseitig beendet hatte, kostete die neuerliche Aggression allein bis Donnerstag schon beinahe 600 Menschen das Leben. 70 Prozent der Opfer sollen laut WAFA Frauen, Kinder und alte Menschen sein. Die ungeheuer hohe Zahl könnte daran liegen, dass die Luftwaffe nach Angaben von Drop Site News anscheinend neue, noch schwerere Bomben benutzt. Die Krater seien erheblich größer und tiefer als bisher. Splitter wurden noch auf Dächern in 500 Metern Entfernung gefunden.
In Tel Aviv, Jerusalem und vielen anderen Städten zeigten am Samstag abend insgesamt wohl über 100.000 Israelis ihren Unmut über die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen sowie die Absetzung des Chefs des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ronen Bar, und der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara durch Premierminister Benjamin Netanjahu. Auf dem »Platz der Geiseln« zeigten die Familien, deren Angehörige sich noch in der Hand der Hamas befinden, ihre Wut über die Eskalation in Gaza. »Der einzige Kampf sollte im Verhandlungsraum stattfinden, für die sofortige Rückkehr aller Geiseln«, hieß es laut Times of Israel in einem Statement der Organisatoren. »Stoppt den Diktaturwahn!« und »Netanjahu ist ein Verräter!« skandierte die Menge.
Unterdessen eskaliert auch im Südlibanon die Situation. Bei einem israelischen Drohnenangriff auf ein Auto soll es am Sonntag mehrere Opfer gegeben haben, meldete AFP. Israels Luftwaffe hatte bereits am Sonnabend Ziele der Hisbollah bombardiert. In der Stadt Tulin kamen mindestens fünf Menschen ums Leben, darunter ein Kind, berichtete die libanesische Agentur ANI. In der Hisbollah-Hochburg Tyros starben am Sonnabend drei Personen. Israel behauptet, die Angriffe seien die Antwort auf Raketenbeschuss aus dem Libanon – und führt erneut einen Krieg an mehreren Fronten, der längst hätte beendet werden müssen.
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