Die Körperfresser kommen
Von Marc Hieronimus
Daniel Clowes wird neben vielen anderen Fantagraphics-Kollegen insbesondere mit dem sehr ähnlich zeichnenden und erzählenden Charles Burns zur zweiten Generation der US-amerikanischen Underground-Comiczeichner gerechnet. Weil der Generationenbegriff so unpräzise ist, stört es gar nicht, dass Clowes Burns’ Vorbild war. Die erste Generation wandte sich mit Magazinen wie Zap Comix, Arcade oder Dr. Wirtham’s Comix & Stories bewusst gegen Frederic Werthams einflussreiche Anticomickampagne und den daraus hervorgegangenen Comiccode. Ihre Autoren waren Teil der Hippie- und Beat-Kultur oder fühlten sich ihr nahe, spielten frech mit den Tabus und der Verlogenheit der US-amerikanischen Gesellschaft der 1960er und 70er Jahre. Die sind lang vorbei, und so verleitet der Begriff Underground schnell zu falschen Vorstellungen von sogenannter Bückware, die unter der Ladentheke aufbewahrt oder von zwielichtigen Gestalten wie dem Sesamstraßendealer Schlemihl an der Straßenecke verhökert wird: Hey du, willst du ein A kaufen? Ernie: Ein A? – Genaaaauuu … Underground-Literatur ist tatsächlich nicht einmal mehr auf verschworene Fankreise beschränkt, sondern kann sich im Gegenteil recht gut verkaufen, wie die oben genannten Nachfolgeautoren beweisen.
Ende der 60er
Was ist dann aber Underground am Underground? Der »Kindler« von 1965 kennt ihn noch gar nicht, der »Literatur-Brockhaus« nennt ihn 1995, als Lexika so gerade noch gedruckt wurden, kurz und bündig eine »avantgardistische künstlerische Protestbewegung gegen das künstlerische Establishment«, dabei hat das »Metzler-Literaturlexikon« die Problematik schon 1990 erfasst: Grundsätzlich sei jede verbotene Literatur Underground, spezieller die seit etwa 1960 von den USA ausgehenden »Strömungen und Formen«, kennzeichnend sind alternative Lebensentwürfe, Tabuzertrümmerungen, eigene Distributionsapparate, bla, bla, bla, aber dann: »Da die Underground-Literatur über ein gefühlsmäßig betontes, ideologisch vages politisches Engagement meist kaum hinauskam, fand sie sich (wie fast die ganze Subkultur) bereits Ende der 60er Jahre beinahe vollständig kommerzialisiert und ins offizielle Kulturleben weitgehend integriert (…).«
Genau damals beginnt Daniel Clowes’ neuer Comic »Monica« – oder genauer gut 300.000.000 Jahre früher, denn auf dem sogenannten Schmutztitel, der etwas festeren Doppelseite vor dem Buchblock, fasst er auf 20 Panels zusammen, was vorher geschah, von Frühformen des Lebens über Dinos, erste Säugetiere, Menschen, Ägypten, Jesus, Mittelalter, Kolumbus, Industrialisierung, amerikanischer Bürger-, Erster Weltkrieg, Hitler, Atombombe, Little Richard und Kennedy bis zur US-amerikanischen Modellfamilie. Es musste kommen, wie es kam, damit sich die »Manifest Destiny«, die offenkundige Bestimmung der USA als Heilsbringer und Vollendung der Zivilisation, erfüllen kann.
Leute wegpusten
Richtig los geht es dann mit zwei GIs in einem »stinkenden Schlammloch« im vietnamesischen Dschungel. Der hübschere aus leidlich besseren Kreisen, Johnny, will nur seine Frau Penny heiraten, Kinder kriegen, »ein Haus, einen Job, nichts Besonderes«. Der andere stellt fest, dass sein Kindheitstraum, »Leute wegpusten und ihren Scheiß in die Luft jagen«, zwar erfüllt, aber doch nicht so erfüllend ist, weil er nicht die abknallen darf, die auf seiner Liste mit Arschlöchern stehen. Vor allem plagen ihn düstere Vorahnungen von Feuer und Blut, die vom Himmel regnen: »Alles, was wir je geliebt haben, wird verschüttet, vernichtet und ist für immer fort.«
Damit ist der Ton für Monicas Geschichte vorgeben. Penny ist ihre Mutter, aber Johnny nicht ihr Vater, denn Penny muss sich selbst finden und emanzipieren, treibt sich während Johnnys Einsatz in Vietnam mit Künstlern, Hippies und Erleuchteten herum und wird von einem der Freaks ungewollt schwanger. Sie bricht mit den leiblichen und den Schwiegereltern. Monicas erste Erinnerungen sind »eine endlose Lawine verrückter Verehrer und merkwürdiger Mitbewohner«. Ein paar Jahre später heiratet Penny ihren Johnny fast doch noch. Am Abend vor der Hochzeit aber gibt sie Monica bei ihren verhassten Schwiegereltern ab und verschwindet erst in eine Sekte, dann für immer. Düstere, unerklärliche Dinge passieren, von denen die Leserin nicht weiß, ob sie halluziniert oder wirklich sind: Über ein Radio kann Monica mit ihrem toten Großvater sprechen.
Künstler und Sektenjünger
Johnny lebt einige Jahre später davon, verschwundene Personen aufzufinden und zurückzubringen, und geht dafür auch über Leichen. Einmal aber ist etwas Schreckliches mit der Auftraggeberin passiert, so dass die Polizei ihn nicht einmal in die Stadt lässt. In einem anderen Kapitel kehrt ein junger Mann nach vier Jahren in sein Heimatdorf zurück, aber alles ist heruntergekommen, als wäre er ewig fortgewesen, die Bewohner verhalten sich sonderbar wie im Horrorklassiker »Die Körperfresser kommen« mit Donald Sutherland. In der Tat hat irgend etwas von den Menschen Besitz ergriffen, wie überhaupt durchweg alles nicht so läuft, wie der amerikanische Traum oder der göttliche Plan es vorgesehen hatten, und auch die alternativen Lebensstile – als Hippie, Künstler, Sektenjünger – führen zu Wahnsinn und Verderben. Ein paar werden durch Jesus und eine Paarbeziehung gerettet, wie Monicas Vater, zur Zeit ihrer Zeugung ein gewalttätiger Junkie, der von Penny die Abtreibung verlangt, jetzt ein friedlicher Familienvater, den sie tatsächlich auffindet und fragt, warum er sich nie nach ihr erkundigt hat. »Ich hatte Streit erwartet, Rechtfertigungen. Aber er lächelte nur, als wollte er sagen: ›Hoppla‹. Als wäre es ihm nie in den Sinn gekommen.« In Clowes’ Welt voller Unglücklicher und Durchgeknallter möchte man nicht leben. In der vielleicht noch etwas wahnsinnigeren, aber sonst ganz ähnlichen von Charles Burns genausowenig. Lieber sich einreden, dass es bei uns noch nicht ganz so schlimm ist wie im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Daniel Clowes: Monica. Reprodukt-Verlag, Berlin 2024, 112 Seiten, 26 Euro
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. (23. März 2025 um 21:03 Uhr)Ich hab das Buch selbst noch nicht in der Hand gehabt, aber unter uns Bibliophilistern – hat da eventuell jemand Schmutztitel und Vorsatzpapier verwechselt? »Genauigkeit ist erste Pflicht des Revolutionärs« (Lenin, mutmaßlich)
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