Potential für Differenzen
Von Ulrich Schneider
Am 18. März begann in Kassel die inhaltliche Vorbereitung der Documenta 16, im Sommer 2027 wird sie für 100 Tage die internationale Kunstwelt in die Stadt führen. Naomi Beckwith, seit Ende 2024 Kuratorin der Schau, stellte in einer öffentlichen Präsentation ihr Konzept der Weltkunstausstellung vor. Das Interesse war groß, 700 Gäste nahmen an der Veranstaltung teil, darunter über 150 Journalisten aus dem In- und Ausland.
Nach Eröffnungsstatements vom Geschäftsführer der Documenta gGmbH, Andreas Hoffmann, dem Aufsichtsratsvorsitzenden, Kassels OB Sven Schoeller, und dem hessischen Wissenschaftsminister Timon Gremmels, in denen die »künstlerische Freiheit«, der »Skandal« der Documenta 15 und die »Lehren«, die man gezogen habe, reklamiert wurden, präsentierte die US-Amerikanerin Naomi Beckwith ihre Vorstellungen von der zukünftigen Schau.
In den meisten Medien wurde anschließend hervorgehoben, Beckwith wolle Brücken bauen, als wäre das bereits ein künstlerisches Konzept. Sie begann mit einem biographischen Rekurs, in dem sie ihre Erfahrungen als Afroamerikanerin in den USA, die Ausgrenzung von »schwarzer« Kunst und die damit verbundene gesellschaftliche Realität des Alltagsrassismus, der Diskriminierung und sozialen Segregation ansprach. Kunst sei für sie keine »Illustration« gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern Teil und Ausdrucksform dieser Realität. Überzeugend war bei ihrer Präsentation, wie sie als »Beleg« für ihre Überlegungen Kunstwerke zeigte, darunter eine Fotoinstallation einer früheren Documenta, auf der Fidel Castro und Salvador Allende im Mittelpunkt standen. Für sie müsse Kunst in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen Antworten auf heutige Herausforderungen geben, indem sie historische Erfahrungen verarbeite.
Aus ihrer Sicht habe man sich hier und heute den globalen Herausforderungen in weltweiter Verantwortung zuzuwenden (»planetary collectivity«). Interessant: Beckwiths Unterscheidung zwischen prophetischer Vision der Kunst und provokativer Funktion. Die Frage, welchen Platz der globale Süden, der in der Documenta 15 bekanntlich eine herausgehobene Rolle spielte, auf der kommenden haben werde, umschiffte sie, indem sie unkonkret darauf verwies, dass Kunst aus allen Erdteilen vertreten sein werde.
Während in der deutschen Debatte »künstlerische Freiheit« nicht ohne den Hinweis, sie dürfe kein »Freibrief für Antisemitismus« sein, diskutiert wird, drückte sich Beckwith deutlich toleranter aus. Unterschiedliche Sichtweisen und Differenzen solle man als Potential für einen dialogischen Umgang begreifen. Es müsse um Gespräche gehen, nicht um Anordnungen. Sie verneine vehement Gewalt in den Auseinandersetzungen, wobei sie als Afroamerikanerin gewiss einschlägige Erfahrungen gesammelt hat, die das Handeln staatlicher Institutionen zumindest zweifelhaft erscheinen lassen könnten, etwas, was die Mehrheit der Veranstaltungsbesucher möglicherweise nicht verstanden hat. Nur so ist zu verstehen, dass Beckwiths Forderung, Menschenrechte nicht zuletzt bei der Documenta als universell zu verstehen, mit großem Applaus auch derjenigen bedacht wurde, die keinen strukturellen Rassismus im Agieren staatlicher Institutionen erkennen können.
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