Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 27.03.2025, Seite 8 / Ansichten

Mittlerer Osten des Tages: Stendal

Von Arnold Schölzel
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Leerstehender Plattenbau in Stendal

Sachsen-Anhalt, schrieb Annette Riemer vor einigen Jahren in dieser Zeitung, ist wieder so dünn besiedelt wie zu Zeiten des römischen Präfekten Varus, die Städte seien vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Stendal – 150 Kilometer von Hannover entfernt, 120 Kilometer von Berlin, also im deutschen mittleren Osten – legt beim Wiedereinzug von Sumpf, Binsen und Wolf nun vor.

An diesem Donnerstag werden vier seit Jahren dem Verfall überlassene Plattenbauten im einstigen Wohngebiet Stendal-Süd versteigert – die Mindestgebote betragen 95.000 bis 180.000 Euro. Da es sich um ein erdgeschichtliches Vorhaben handelt, zeigt die Stadt langen Atem: 2002 hatte sie, erstmals in Sachsen-Anhalt, beschlossen, ein ganzes Wohngebiet abzureißen. Bis 2013 verschwanden 6.000 Wohnungen. Aber in der Stadt, die 1990 auf der heutigen, durch Eingemeindung vergrößerten Fläche 56.000 Einwohner hatte, wohnen inzwischen nur noch 39.000 Menschen. Angepeilt wird Infrastruktur für 35.000 Einwohner. Die jetzt unter den Hammer kommenden vier Wohnblöcke mit mehr als 400 Wohnungen erwarb vor einigen Jahren eine Lichtgestalt aus Bayern, ein sogenannter Investor, der frei wie einst Helmut Kohl preiswerten Wohnraum versprach und für Leerstand sorgte. Strom, Wasser und sonstige Versorgung sind abgeklemmt, der Verfall weit fortgeschritten.

Aber die Zivilisation bleibt vorm Kontakt mit Gestank und Geröll bewahrt. Die Auktion findet im feinen Sheraton Berlin Grand Hotel Esplanade statt. Erst am Montag berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der rührenden Überschrift »Rettet die DDR!«, dass sich ostdeutsche Denkmalpfleger zusammengeschlossen haben, um Bauten der DDR zu schützen. In Stendal waren sie nicht. Eine Parole in den Kommentaren unter dem MDR-Bericht zur Auktion: »Wir bauen auf und reißen nieder – so haben wir Arbeit, immer wieder.«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (27. März 2025 um 11:38 Uhr)
    Es ist über die Maßen traurig, wie grausam gerade die Klein- und Mittelstädte wirtschaftlich ausgeblutet sind seit 1990. Stendal hatte das Reichsbahn-Ausbesserungswerk und viel kreisgeleitete regionale Wirtschaft plus Land- und Forstwirtschaft, AKW-Baustelle. Alles weg oder unwesentlich. So viele dieser Orte hatten eine republikweite wirtschaftliche Bedeutung, dort wurden nützliche und wertvolle Produkte hergestellt. Die haben jetzt vielleicht sanierte Innenstädte, aber wer wohnt noch dort? Würde es jemand merken, gäbe es sie nicht? Zu DDR-Zeiten wurde die Provinz geschröpft, d. h. sie bekam oft nicht die erforderlichen Mittel für ihre Reproduktion zurück. Heute muss sie subventioniert werden, damit überhaupt noch jemand dort wohnen kann. Wie dumm und unwürdig …
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (26. März 2025 um 21:02 Uhr)
    »Der Letzte macht das Licht aus« – das war einst ein bitterer Witz in der DDR, wenn wieder jemand in den Westen floh. Doch die DDR gibt es längst nicht mehr. Und trotzdem passiert genau das. Wo einst die stolze Hansestadt Stendal pulsierte, Kaufleute feilschten und Reisende rasteten, wo Hochkultur und Geschichte sich gute Nacht sagten – herrscht heute wieder große Stille. Man könnte fast meinen, die Stadt habe eine Karriere als Freiluftmuseum für das frühe Mittelalter eingeschlagen. Denn Stendal, strategisch brillant zwischen Hannover und Berlin gelegen, verabschiedet sich leise von der Zivilisation. Hier geht es nicht mehr um Wachstum oder Entwicklung – nein, hier wird der »Ostdrang« neu gedacht: als sanfter Rückzug ins Nichts. Kein Wunder, dass die Stadt den Wiedereinzug von Wölfen, Sümpfen und Binsen mit offenen Armen empfängt. Menschliche Zivilisation war ja lange genug anstrengend. Vielleicht hätte man vor dem Rückbau des Ostens mal mit ostdeutschen Denkmalpflegern sprechen sollen, die sich nun unter der Parole »Rettet die DDR!« für den Erhalt sozialistischer Baukunst einsetzen. Doch in Stendal wäre das vergebene Liebesmüh gewesen. Hier verfällt nicht nur die materielle Architektur – sondern, trauriger Weise, gleich die ganze Idee einer Stadt.

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