Unbarmherzige Räumung
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
Die Ulica Warszawska, die Warschauer Straße, ist die östliche Ausfallstraße von Poznań. Sie sieht aus, wie solche Straßen eben aussehen: sechsspurig, Tankstellen, Autohäuser und dort, wo die Straßenbahngleise enden, der größte Friedhof der Stadt. Auf halbem Weg dorthin geht es links zur städtischen Sperrmüllsammelstelle. Wenn man an derselben Kreuzung rechts abbiegt, ist man da. Inmitten von, wenn man so will, architektonischem Sperrmüll. Niedrige Häuschen, wacklige Zäune, daran Transparente: »Wir bleiben hier« oder »Franziskus, weißt Du, was hier passiert?« Es ist die »Malta-Siedlung«, benannt nach dem mittelalterlichen Ritterorden der Malteser, dem das Gelände vom 12. bis zum 19. Jahrhundert gehörte. Siedlung ist eigentlich zu viel gesagt für die Ansammlung von Hütten und Lauben, für die es bis heute keine Kanalisation gibt. Niemand weiß genau, wie viele Menschen aus sozialen Randgruppen hier leben: Es dürften einige hundert sein. Erst vor wenigen Jahren hat die Stadtverwaltung die Hütten durchnummeriert, »damit der Briefträger weiß, wo er hin soll«.
Die Geschichte der Kolonie beginnt während der Weltwirtschaftskrise. Anfang der 1930er Jahre vergab die Kirche Parzellen an »Bedürftige« aus dem Kreis ihrer Pfarrkinder, damit die auf dem sandigen Boden, wo sonst nichts wuchs, Kartoffeln und Gemüse für den Eigenbedarf anbauen konnten. Mit den Gärten kamen die Lauben, dann kam der Krieg, und angesichts der Wohnungsnot in der nach der Befreiung stark zerstörten Stadt war der Magistrat froh, wenn wenigstens ein paar hundert Leute ein notdürftiges Dach über dem Kopf hatten. Das Gelände wurde von der Stadt übernommen und blieb während der Zeit des Sozialismus als Kleingartenanlage sich selbst überlassen. Nach 1990 bekam das Erzbistum das Gelände zurück. Seitdem verwaltet die lokale Kirchengemeinde »St. Johannes von Jerusalem« die Grundstücke. Die Pachtverträge, die sie mit den Nutzern abschloss, laufen nach und nach aus, und mit der Gelegenheit kam der Appetit.
Denn inzwischen ist die Stadt an das Gelände der Laubenkolonie herangewachsen, die Verkehrsanbindung ist gut, ein naher Stausee, ironischerweise eine Hinterlassenschaft der deutschen Besatzer aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, erhöht den Freizeitwert des Standorts. Also soll jetzt das Gelände der »Malta-Siedlung« weiter »entwickelt« werden, und das geht am besten, wenn die Bewohner weg sind. Niemand kauft gern ein Grundstück, von dem er erst noch die Bewohner herunterklagen muss. Also schaltete das Erzbistum eine Immobiliengesellschaft ein, um das »Freiziehen« der Grundstücke abzuwickeln und die Kirche aus der vordersten Front des heranreifenden Konflikts herauszuhalten. Wie sähe das auch aus: am Sonntag Barmherzigkeit predigen und unter der Woche Leute obdachlos machen?
Die Firma hat eine schicke Internetseite geschaltet, die im wesentlichen aus Antworten auf »häufig gestellte Fragen« besteht. Alles mit dem Tenor: Ihr habt keine Chance zu bleiben, geht lieber freiwillig – wir machen jeder Familie ein individuelles »Hilfsangebot«. Mit der Betonung auf »individuell«. Was die Immobilienentwickler des Erzbischofs am meisten fürchten, ist kollektive Gegenwehr oder auch nur gemeinsamer Protest. Zwei Anwohnerversammlungen, die die Immobilienfirma im vergangenen Jahr veranstaltete, endeten im Tumult und trugen nicht dazu bei, die Stimmung zu »befrieden«. Im Gegenteil: Mitarbeiter der Firma, die sich zu Messungen und Vorbereitungsarbeiten in die Siedlung hineintrauten, wurden mehrfach von Anwohnern tätlich angegriffen; einer fiel dabei in eine Pfütze, und seine Brille ging darüber zu Bruch. Über Nacht abgestellte Baumaschinen waren am nächsten Morgen kaputt.
Die Stadtverwaltung hält sich aus dem Konflikt bewusst heraus. Sie sei »nicht Streitpartei«, erklärte Oberbürgermeister Jacek Jaśkowiak, obwohl sie es ist, die im Bebauungsplan für das Gelände »Mehrfamilienhäuser« eingetragen und so den Verkaufsbestrebungen der Kirche den politischen Rahmen verschafft hatte. Für absurd halten es die Bewohner trotzdem. Denn schließlich bleibe die Stadt schlussendlich auf den Kosten für den sozialen Kahlschlag sitzen, weil sie verpflichtet sei, obdachlos gewordenen Bewohnern eine Ersatzunterkunft zu verschaffen. Aber mit der katholischen Kirche legt sich in Polen kein Politiker ungestraft an, der noch etwas werden oder im Amt bleiben will. Zumal die in Poznań seit Jahrzehnten regierende »Bürgerplattform« sich einen Ruf als politischer Arm der örtlichen Immobilienwirtschaft erarbeitet hat.
Einzig die aus der Hausbesetzerszene hervorgegangene anarchistische Gewerkschaft »Arbeiterinitiative« findet gelegentlich Worte der Solidarität mit den Bewohnern. Für mehr Unterstützung reichen die Kräfte aber nicht. Am vergangenen Wochenende gab es immerhin eine Demonstration für die Bewohner mit einigen hundert Teilnehmern, auch aus dem benachbarten Gniezno und aus dem 300 Kilometer entfernten Warschau. Darunter der Sozialaktivist und Armenanwalt Piotr Ikonowicz und der Präsidentschaftskandidat der linkssozialdemokratischen Partei Razem, Adrian Zandberg. Der wetterte über »unmenschliche Gier«, die »menschliches Leid hervorbringe« und forderte OB Jacek Jaśkowiak auf, »sich zu besinnen«. Klassenanalyse sieht anders aus, aber Zandberg behauptet auch nicht von sich, Marxist zu sein.
Im nachhinein wird immerhin verständlich, warum die Stadtverwaltung gleichzeitig mit der Erstellung des Bebauungsplanes die Hausnummern vergeben hat: als Hilfeleistung für den sprichwörtlichen Briefträger, auch dann, wenn er den Räumungsbefehl dabei hat.
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