Das Lieben danach
Von Christiana Puschak
Ein ungewöhnlicher, literarischer Essay begegnet uns in Helene Brachts autobiographischem Buchdebüt »Das Lieben danach«. Eine 70jährige Frau beginnt, über das Trauma der von ihr als Kind erlebten sexualisierten Gewalt zu erzählen. Viele Jahre lang erschien ihr dies »gänzlich unerheblich«, erst recht, wie sie notiert, im Vergleich zu den Qualen, die so viele andere erleiden mussten: »Das Schweigen war mein Obdach, mein Zuhause.« Erst auf den Kanarischen Inseln, ihrem »Unsichtbarkeitsasyl«, wo sie sich »in der Anonymität wunderbar geborgen« fühlt, findet sie einen »Möglichkeitsraum innerer Freiheit«, um sich dieser verschütteten Erfahrung schreibend zu nähern und nach Jahrzehnten auf das eigene Leben zurückzuschauen: »Ich ging den Spuren nach, die solche Erfahrungen hinterlassen können, besonders den auf den ersten Blick kaum erkennbaren, den harmlos ausschauenden, den verborgenen. Es war eine spannende Expedition in ein großes, wenig ausgeleuchtetes Land.«
Die Autorin erinnert sich, wie ihr der Nachhilfelehrer und Freund der Mutter Liebe vorgaukelte und wie er ihr das Gefühl gab, »etwas Besonderes« zu sein. Realitätsnah sowie schonungslos schildert Bracht die »Aneignung eines Mädchenkörpers« und das Entstehen einer emotionalen Bindung. Schmerz wie Einsamkeit des Mädchens werden fühlbar, ebenso die schwierige Beziehung zur Mutter, die – selbst betroffen von sexualisierter Gewalt durch ihren kriegsversehrten Ehemann – Sexualität als »Frondienst« empfindet. Als die Mutter entdeckt, was ihrer Tochter widerfährt, wird darüber nicht gesprochen, und das Leid der introvertierten Tochter wie ihre Sehnsucht nach Zuwendung werden ignoriert. Gerade diese frühe toxische Bindungserfahrung ist das, so die Autorin in einem Interview, was Vertrauen und Intimität ein Leben lang kontaminiert.
Ohne Frage, die Lektüre macht betroffen. Einfühlsam widmet sich die unter einem Pseudonym schreibende Autorin – auch in ihrer Eigenschaft als Psychologin – dem Thema der sexualisierten Gewalt; ihre Ausführungen können als Resultat einer intensiven Introspektion, einer ehrlichen Selbstanalyse gelesen werden. Es bedurfte eines langen Erkundungsprozesses, um die eigenen Erlebnisse in Sprache zu übersetzen, um einen Ton zu finden und um dem Kind nach Jahrzehnten eine Stimme zu geben. Dies gelingt Bracht in einer eindringlichen Ausdrucksweise – man mag kaum glauben, dass es sich bei dem Buch um ein Erstlingswerk handelt.
Neben autobiographischen Episoden lässt Bracht theoretische Überlegungen und gesellschaftliche Betrachtungen in ihren Text einfließen. Tiefenscharf reflektiert sie, welche Folgen die erlebte sexualisierte Gewalt für ihr Erwachsenwerden und für ihre späteren Liebesbeziehungen hatte. Dass sie dies nicht losgelöst von der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte betrachtet, ist eine Stärke des Buches, wie auch, dass sie ihr Schicksal nicht als ein individuelles, sondern als ein gesellschaftliches Problem diagnostiziert und dass sie Grundgefühle in den sozialen Kontext und dessen Verhaltenserwartungen stellt.
Ausführlich widmet sich Bracht dem Phänomen der Scham, die sie immer wieder »in ihrer vollen, zersetzenden Kraft« empfand und die ihr »zur ständigen Begleiterin« wurde. So verwundert es denn auch nicht, dass Bracht sich in vielem, was Anja Meulenbelt in ihrem Buch »Die Scham ist vorbei« schrieb, wiederfand, vor allem in der These, dass sich »die Liberalisierung der sexuellen Revolution für die Frauen in ihr Gegenteil verkehrt habe«, nämlich in einen »neuen Zwang zur sexuellen Verfügbarkeit«. Neben Scham werden auch Themen wie Bodyshaming, Catcalling, Love-Scammer und die Me-too-Bewegung in ihre Betrachtung einbezogen: »Allen aufgeregten Diskriminierungsdiskursen … zum Trotz halten sich die alten Stereotype mit gnadenloser Resilienz.«
Helene Bracht ist ein höchst nachdenkliches und aufrichtiges Buch über den Umgang mit Intimität, Verletzlichkeit und Vertrauen sowie Begehren und Angst in der Begegnung zwischen Menschen gelungen.
Helene Bracht: Das Lieben danach. Carl-Hanser-Verlag, München 2025, 192 Seiten, 22 Euro
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