Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 29.03.2025, Seite 15 / Geschichte
Zweiter Weltkrieg

Der gestrichene Feiertag

Vor 80 Jahren wurde Ungarn sowjetisch besetzt und vom Faschismus frei. Die Deutung des Ereignisses ist umstritten
Von Christian Stappenbeck
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Befreit: Soldaten hissen die sowjetische Fahne in Budapest (13.2.1945)

Für vier Jahrzehnte war der 4. April in Ungarn, in der Ungarischen Volksrepublik, staatlicher Feiertag. »Felszabadulás napja«, wörtlich: Tag des Befreitwerdens. An diesem Tag wurde seit 1950 an die gefallenen Sowjetsoldaten erinnert. Nach dem »Systemwechsel« – wie man in Ungarn zu sagen pflegt – mochte das regierende Establishment keinerlei positive Erinnerung mehr mit der Roten Armee verbinden, und der Feiertag wurde gestrichen. Statt Befreiung war das neue Schlagwort Besetzung: Ungarn sei vom März 1944 (deutscher Einmarsch) bis Juni 1990 (Abzug der sowjetischen Truppen) ein besetztes Land gewesen. Man fragt sich: Und davor? War jener halbfeudale Ständestaat ein freies Land, mit dem Volk als einem souveränen Gestalter seines Geschicks?

Das Königreich Ungarn hatte im April 1941 den Nachbarn Jugoslawien vertragsbrüchig überfallen und war so in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Beim Einmarsch in die Vojvodina wurde unter jüdischen und serbischen Zivilisten ein Blutbad angerichtet, das Gebiet annektiert. Im Herbst 1942 marschierte dann die Zweite Ungarische Armee mit 207.000 Mann zur Sicherung des deutschen Vormarsches Richtung Stalingrad, was mit einem Desaster endete. Ungarn kämpfte also zuerst auf fremdem, seit Herbst 1944 auf eigenem Boden als Vasall Großdeutschlands gegen die vorrückenden Alliierten. Seine Arbeitskräfte, Devisenbestände und Rohstoffe (Bauxit) wurden für die großdeutsche Kriegführung genutzt. Um dies zu sichern, besetzte die Wehrmacht das Land. Und mit Hilfe der Verwaltungsorgane des Staatschefs Miklós Horthy konnten Adolf Eichmann und die Gestapo ihr räuberisches Vernichtungsprogramm gegen alles Jüdische durchführen. Als Horthy nicht mehr spurte, ersetzten Hitlers willige Vollstrecker ihn durch den Faschistenführer Ferenc Szálasi, Chef der Pfeilkreuzler-Partei.

Zerstörung und Aufbruch

Im Oktober 1944 erreichten die Sowjettruppen die Mitte Ungarns. Bald danach, ab Weihnachten jenes Jahres, war Budapest eingeschlossen und wurde zur »Festung« erklärt, nach siebenwöchiger verlustreicher Belagerung aber erobert (13. Februar 1945). Die letzte bedeutende Schlacht begann Anfang März in der Umgebung des Balatons. Dort versuchte die Wehrmacht ihre letzten verfügbaren Ölfelder bei Zala zu halten und stieß kurzzeitig nach Osten vor. Eine Woche später wendete sich das Blatt, beim Gegenstoß der Roten Armee brach die deutsche Front auseinander, die Bastion »Südostwall« an der österreichisch-ungarischen Grenze (hier hatten über 30.000 Zwangsarbeiter schuften müssen) hielt nicht lange. Die letzten Gefechte dauerten bis zum 12./13. April 1945 – offiziell war Ungarn aber am 4. April, als Sowjeteinheiten das Grenzdorf Nemesmedves besetzten, von faschistischen Truppen frei. Die Pfeilkreuzler flohen oder tauchten unter.

Das Erbe des Horthy-Regimes und der Terrorherrschaft Szálasis war schrecklich: Hunderttausende Tote, darunter 420.000 jüdische Ungarn; viele Häuser und sämtliche Donaubrücken zerstört; Industrieanlagen, Museumsschätze, die heilige Stephanskrone und die Goldreserven der Nationalbank gen Westen verbracht. Trotz der Verwüstungen entstand im Gefolge des 4. April eine Aufbruchstimmung bei weiten Bevölkerungskreisen. Landesweit bildeten sich über 3.200 lokale Komitees. Sie sorgten für eine Reform von Verwaltung und Justiz, Säkularisierung der Schulen, Wiederaufbau der Betriebe und der Hauptstadt. Es gab neue ungeahnte Bildungschancen für Arbeiter- und Bauernkinder. Davon zeugen nicht zuletzt namhafte Werke der ungarischen Literatur.

Der alte Justizapparat wurde durch neue Volksgerichte teilweise überlagert. Die schlimmsten Schreibtischtäter (zum Beispiel die Partner Eichmanns im Innenministerium) erhielten ihr Todesurteil. In der wilden Übergangszeit bildeten örtliche Komitees auch eigene Tribunale aus Arbeitern und Agrarproletariern, deren Verfahren sich manchmal zu regelrechten Plünderungen entwickeln konnten. Zur Wahrheit gehört indes, dass die Masse der kleinen Nazihelfer und Nutznießer, der Gendarmen und Denunzianten ungeschoren davonkam.

Wenn von Befreiung die Rede ist, muss unbedingt die größte werktätige Klasse Ungarns berücksichtigt werden – denn zum Befreiungsdatum gehört die Bodenreform. Schon zwei Wochen vor dem 4. April war das Reformgesetz von der provisorischen Koalitionsregierung verkündet worden, und es bescherte über 650.000 Familien besitzloser Landarbeiter (das waren 34 Prozent aller Einwohner) sowie den kleinen und Zwergbauern neues Ackerland, vorrangig auf Kosten früherer Großagrarier und Kirchengüter. Zum Sieger bei den ersten Nachkriegswahlen wurde folgerichtig die Kleinbauernpartei mit 57 Prozent der Stimmen. Sozialdemokraten und Kommunisten erhielten jeweils rund 17 Prozent. Deren Basis bildete die Industriearbeiterschaft, doch die war eine Minderheit im agrarischen Ungarn.

Horthy entschuldigt sich

Beim Streit um den Charakter des 4. April und um die Wortwahl wäre einiges zu erwägen. Wenn man einer Meinungserhebung von 2005 glauben darf, sind 30 Prozent der Bevölkerung Ungarns mit der Benennung »Befreiungstag« einverstanden. Ein gutes Drittel der Befragten plädiert für »Besatzung«, weil im Ergebnis wenig Freiheit herrschte und zahlreiche Willkürakte der siegreichen Soldaten und KGB-Leute erlebt wurden. Der Rest hält beide Qualifizierungen für unzutreffend. Vergessen wird in Ungarn bis heute oft und gern, dass die immens große Zahl gefallener oder in der Gefangenschaft umgekommener Landsleute am Dnjepr und Don (wo sie nichts zu suchen hatten) keine Folge sowjetischer Bosheit war. Es war vielmehr Folge des vertragswidrigen Überfalls auf das Sowjetland. Staatschef Horthy bewies sogar sein schlechtes Gewissen und entschuldigte sich am Ende brieflich bei Stalin. Aus dem Blickwinkel eines geretteten Überlebenden des Budapester Ghettos stellte sich Ungarns Niederlage natürlich anders dar als aus dem eines Honvéd-Offiziers; anders aus dem Blickwinkel der reformbegünstigten Dorfarmut als aus dem eines enteigneten Magnaten.

In den zeitgenössischen Schriftzeugnissen der sowjetischen Seite wird stets von Besetzung bzw. Inbesitznahme Ungarns als Feindstaat gesprochen, statt von Befreiung (der ČSR und Polen gegenüber ist vom Befreien, »oswobodit«, die Rede). Angesichts des fanatischen Widerstands ungarischer Truppen und Pfeilkreuzler in den letzten Kriegswochen wäre es den Rotarmisten absurd erschienen, die Unbelehrbaren zu »befreien«. Doch wer nicht als Befreier kommt, kann dennoch Befreier sein.

Schuld und Wiedergutmachung

Schon am 22. Dezember 1944 (während in Westungarn noch schwere Kämpfe tobten) wurde in Debrecen auf breiter politischer Grundlage eine provisorische Regierung gebildet. (…) Wegen der Komplizenschaft mit Deutschland war Ungarn international geächtet. Die Regierung in Debrecen unternahm große Anstrengungen, das Land wieder in die internationale Staatengemeinschaft zu integrieren, und erklärte am 28. Dezember 1944 Deutschland den Krieg. Ungarns Regierung schloss mit den Mächten der Antihitlerkoalition am 10. Februar 1947 in Paris einen Friedensvertrag. Es wurde bestimmt, dass alle seit dem 1. Januar 1938 erfolgten territorialen Erweiterungen ungültig seien. Ungarn musste ein Gebiet von mehr als 45 Prozent des Territoriums (…) zurückgeben. Horthys Soldaten hatten in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und in der Sowjetunion gewaltige Zerstörungen und großes Leid verursacht. Um einen Teil der Schäden zu regulieren, wurde Ungarn zur Zahlung von Reparationen in Höhe von 300 Millionen US-Dollar verpflichtet. 200 Millionen mussten an die Sowjetunion, 70 Millionen an Jugoslawien und 30 an die Tschechoslowakei entrichtet werden. (…) 1948 erließ die Sowjetunion Ungarn 50 Prozent der noch nicht beglichenen Reparationsschuld.

In memoriam Martin Seckendorf, gestorben 14. Oktober 2020. Auszug aus dem letzten Aufsatz Seckendorfs: Durchbruch an der Ostfront, junge Welt vom 4. April 2020

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