Fortschritt auf allen Ebenen
Von Gerd Schumann
In diesen Tagen erscheint im Papyrossa-Verlag das Buch »Thomas Sankara« von Gerd Schumann, eine Biographie des sozialistischen Revolutionärs, der am 4. August 1983 in dem ein Jahr später in Burkina Faso umbenannten Obervolta die Macht übernahm und das Land bis zu seiner Ermordung am 15. Oktober 1987 als Präsident regierte. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag das redaktionell gekürzte Kapitel »Emanzipation der Frau und Umweltschutz«. Das Buch kann bestellt werden unter www.papyrossa.de (jW)
Grundsätzlicher Anspruch der voltaischen Kulturrevolution war es, für allgemeine Bildung sowie insbesondere für die Gleichberechtigung der Frau zu sorgen. Das sei »eine Hauptachse des Kampfes«.¹ Eine weitere wurde der Umweltschutz, den Sankara auf bis dahin nicht nur für Burkina Faso beispiellose Art und Weise auf den Schild hob.
Kampf um Frauenrechte
»Jede Frau braucht einen Arbeitsplatz. Jede Frau muss die Möglichkeit haben, auf ehrliche und würdige Art ihren Lebensunterhalt zu verdienen«, so Thomas Sankara.² Dabei gingen seine umfangreichen Pläne für eine entsprechende Emanzipation weit über einen Arbeitsplatz hinaus. Sie beschäftigten sich psychologisch und materialistisch mit den über Jahrhunderte gewachsenen, tief verankerten Denkweisen des Patriarchats sowie den damit verbundenen Sitten, Gebräuchen und Hierarchien der überkommenen Clangesellschaft. Derart hinterfragend, begann die Kulturrevolution in dem westafrikanischen Binnenland, und eine dementsprechend vielfältige Themenpalette begleitete sie über die Jahre.
Zunächst ging es vorrangig darum, die wirtschaftliche Lage der Frauen in den ländlichen Gebieten und städtischen Arbeitervierteln zu verbessern. Es wurden Ausbildungszentren erschaffen, in denen Frauen Erwerbsberufe wie Lebensmittelverarbeitung und Weberei erlernen konnten. Ein Fonds für soziale und gesundheitliche Bildung wurde eingerichtet. Zur Verbesserung der Stellung von Frauen innerhalb der Familie wurden gesetzliche Mittel eingesetzt, samt Verabschiedung eines Familiengesetzbuches. Witwen und Waisen hatten nunmehr ein Anrecht auf Erbschaften; die Leviratsehe, also die Verpflichtung einer Frau, bei Ableben ihres Mannes sich mit einem anderen Familienmitglied zu verheiraten, ebenso wie Polygamie und Mitgift sowie Früh- und Zwangsverheiratungen wurden verboten.
Zur Verwirklichung der Vorstellungen müssten »wir uns«, so Sankara, »auch hier von den Relikten der Feudalzeit befreien. Die feudale Erziehung lehrt uns: Jungen sind den Mädchen übergeordnet.« Unter dem »Wir« verstand er die gesamte Gesellschaft, speziell jedoch die burkinabe Männerwelt und deren patriarchal ausgelegten Denkstrukturen und Verhaltensweisen. Die galt es anzugreifen und letztlich zu überwinden. Er nannte ein Beispiel: »Nehmen wir die Schule. Wenn ein Mädchen schwanger ist, fliegt es von der Schule. Niemand fragt danach, ob der Sexualpartner, der sie geschwängert hat, in der gleichen Klasse ist. Und selbst dann ließe man den Jungen in Ruhe. Er kann in der sechsten Klasse anfangen bis zur Abschlussklasse. Ihm passiert nichts. Doch das Mädchen kann kurz vorm Abitur stehen – es fliegt von der Schule.«
Gervais Ouédraogo von der Revolutionären Studentenorganisation Burkina Fasos erläuterte dazu: »Seine Politik zielte tatsächlich darauf ab, die Frau in der traditionellen Gesellschaft von Burkina Faso als Mensch anzuerkennen. Manche Traditionen sind hier noch immer gängige Praxis, zum Beispiel die Zwangsheirat und die Beschneidung. Außerdem hat in der Ehe ausschließlich der Mann das Sagen. Alle diese Dinge wurden in Frage gestellt, und er hat einige wirklich rückständige Sachen bekämpft.«
Zum Internationalen Frauentag 1987 hielt der Präsident eine Rede, die zu seinen wichtigsten gezählt wird. Sie gilt – wie im globalen Norden vergleichsweise die Schriften und Aktivitäten von europäischen Frauenrechtlern und Frauenrechtlerinnen an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, wie Louise Michel, August Bebel, Clara Zetkin, Alexandra Kollontai oder, später, Simone de Beauvoir – auch wegen ihres antiimperialistischen Charakters als Herausforderung für den Kampf um Frauenrechte im globalen Süden und insbesondere in vielen religiös mehrheitlich islamisch ausgerichteten Ländern. Zu denen gehört Burkina Faso mittlerweile.
Gut 60 Prozent der Bevölkerung Burkina Fasos sind muslimisch, und der Trend setzt sich auf dem Hintergrund aktiver Missionierungstätigkeit fort. 40 Jahre zuvor waren es nur etwa 16 Prozent gewesen. Waren Anfang der 1980er Jahre 75 Prozent Anhänger von afrikanischen Religionen, so sind es heute noch etwa 15 Prozent. Christlich orientiert sind etwa 23 Prozent.
Nach wie vor leben die islamisch orientierten Menschen eine undogmatisch-pragmatische Variante ihres Glaubens, die mit Elementen traditioneller Religionen angereichert ist wie dem rituellen, »Dodo« genannten Maskentanz, der während des Ramadan aufgeführt wird. In den vergangenen Jahren verbreiteten allerdings zunehmend, wie auch in anderen Teilen des Kontinents, vornehmlich von außerhalb des Landes einfallende dschihadistische Gruppen des »Islamischen Staats«, aber auch deren inländischer Ableger, ihr archaisches Frauenbild. 2024 war etwa die Hälfte des Territoriums unter ihrer Kontrolle. Mehr als zwei Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, waren wegen der anhaltenden Gewalt innerhalb des Landes auf der Flucht.
Die Debatte um die Gleichberechtigung der Frau war in der ersten Stunde der Revolution initiiert worden. Sankara setzte dabei zunächst auch administrativ auf eine deutliche Aufwertung von Frauen auf allen Ebenen. So war bereits nach einem Jahr »ein Drittel aller Provinzgouverneure weiblich«.³ Die Journalistin Marie-Roger Biloa kommentiert: »Ich glaube, er war der erste afrikanische Staatschef, der auch andere Posten und nicht nur die der Frauenbeauftragten mit Frauen besetzte. Er hatte eine Planungsministerin, eine Haushaltsministerin und andere äußerst kompetente Frauen im Land. Er wusste, wo er sie finden konnte.«
Eine achttägige Versammlung mit mehreren tausend Teilnehmerinnen aus dem ganzen Land wurde mit einer Vielzahl von Beschlüssen und Empfehlungen am 8. März 1985 beendet. Diese betrafen das wirtschaftliche Leben, ein Verbot von Polygamie, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung, die Aufhebung des Aussteuerzwangs und des Levirats.
Sankara propagierte öffentlich Verhütungsmittel als Schutz vor AIDS und zu Zwecken der Geburtenkontrolle. Am 22. September 1984 organisierte er einen Frauensolidaritätstag, an dem alle Männer »den Haushalt zu erledigen, die Wäsche zu waschen und für die Frauen zu kochen« hatten. »Denn nur, wenn die Männer die Lebensbedingungen der Frauen am eigenen Leibe erfahren«, so Sankara, seien sie dazu in der Lage, »aus eigener Überzeugung für die Verbesserung der Lage der Frau einzutreten«.
Armee mit Prinzipien
Inzwischen hatte sich eine Frauenorganisation gegründet, die Vereinigung der Frauen von Burkina Faso, Union des Femmes du Burkina Faso (UdF-BF); Prostitution war verboten, der Militärdienst für Frauen eingeführt worden. Die Lehrerin Lydia Traoré wertete insbesondere diese Entscheidung als wichtigen Schritt zur Emanzipation: »Dank der Revolution konnten sich die Frauen an der Seite der Männer in der Armee engagieren. Mit der Einführung der Militärausbildung gingen viele Frauen zur Armee. Sie durften plötzlich die gleichen Dinge tun wie die Männer auch. Waffen bedienen, im Gleichschritt marschieren und sogar die gleichen Uniformen tragen wie die Männer.« Das geschah auf Grundlage der Notwendigkeiten der Landesverteidigung, aber insbesondere unter Betonung der moralischen, aufgeklärten Grundsätze des soldatischen Selbstverständnisses in einer Revolutionsarmee, die im Widerspruch zu militaristischen Prinzipien aus Ländern des Nordens standen.
Bezüglich seiner persönlichen Haltung zu militärischer Ethik, soldatischem Denken und dem Verhältnis von Befehl und Gehorsam führte Sankara an: »Wer mit einer tödlichen Schusswaffe in Habachtstellung vor einer Fahne Befehle empfängt, ohne zu wissen, für wen und für was, wird zum potentiellen Verbrecher. Er wartet nur auf ein Signal, um Furcht und Schrecken zu säen. Wie viele Soldaten treiben ihr Unwesen in einem Land oder auf einem Schlachtfeld? Wie viele sorgen für Verzweiflung, ohne zu begreifen, dass sie gegen Frauen und Männer kämpfen, die die gleichen Ideale haben, Arbeiterkinder, deren Eltern in den Streik ziehen, um reaktionäre Regime zu stürzen? Die aber selbst zur Armee gingen und damit für die Interessen reaktionärer Politiker kämpfen.«
Er verstand die Streitkräfte nunmehr als Befreiungsarmee, bewertete dementsprechend auch deren Entwicklung, und das schloss seiner Meinung nach bezüglich des weiblichen Engagements in ihnen jegliche Form der Militarisierung der Gesellschaft aus. Den militärischen und paramilitärischen Sicherheitskräften obliege es, so Sankara am zweiten Jahrestag der Revolution, »dass der revolutionäre Ordnungsbeamte nichts mehr mit dem unmenschlichen, repressiven Schläger von gestern zu tun haben darf. Im Gegenteil, durch ihr höfliches, freundliches, zuvorkommendes und unaufdringliches Auftreten entledigten sich die Sicherheitskräfte ihres schlechten Rufs, ohne dass Standhaftigkeit und Wachsamkeit darunter gelitten hätten.«⁴
Jean Ziegler bemerkte einmal über ein Gespräch mit Sankara: »Ich fand all die roten Barette in Ouagadougou ein wenig albern. Einmal erlaubte ich mir die Bemerkung, man sieht hier viel zu viele Soldaten. Das ist nicht gut. So was macht sich nicht gut in einer Gesellschaft im Aufbruch, in der ein so fortschrittlicher Geist herrscht wie der eure. Da lachte er und meinte: Wir mögen das, aber wissen Sie, das ist alles andere als ein vernagelter Soldat, der nur an Disziplin und ähnlichen Blödsinn glaubt. Er meinte wohl eher, dass das eher konjunkturell war, glaube ich.«
Notwendige Befreiung
Für Frauen wurden spezielle Alphabetisierungsprogramme eingerichtet, und es wurde ein Tag festgesetzt, an dem die Männer auf den Markt gingen und die Einkäufe zu erledigen hatten. So sollten die Männer mit den Lebenshaltungskosten konfrontiert werden. Sankara schlug zudem die Einführung eines Grundeinkommens für Hausfrauen vor, das direkt vom Lohn des Mannes abgezogen werden sollte, doch wurde diese Maßnahme aufgrund des großen Widerstands nie umgesetzt.
Grundsätzlich ging Sankara davon aus, dass »die Frauen und Männer unserer Gesellschaft allesamt Opfer imperialistischer Unterdrückung und Herrschaft« seien: »Revolution und die Befreiung der Frau gehen Hand in Hand. Wir betrachten die Gleichberechtigung der Frau nicht als einen Akt der Wohltätigkeit oder einer Art Barmherzigkeit. Sie ist eine unbedingte Notwendigkeit dafür, dass die Revolution triumphiert.«⁵
Er betrachtete die Unterdrückung der Frau in marxistischer Tradition als eine Erscheinung, die eng mit der historischen Etablierung des Patriarchats verbunden ist: »Mit dem Privateigentum hält die Knechtung des Menschen Einzug. Der Mann als Herr über seine Sklaven und seine Ländereien macht auch die Frau zu seinem Eigentum. Hierin besteht die große historische Niederlage des weiblichen Geschlechts. (…) So trat das patrilineare Recht an die Stelle des matrilinearen Rechts; Land wird vom Vater auf den Sohn, nicht mehr von der Frau an ihren Clan vererbt.«
Er spricht offen alle Formen der Frauenunterdrückung in Gesellschaft, Clans, Familie und Ehe an. »Die männliche Dummheit heißt Sexismus oder Machismus, äußert sich in jeder Form intellektueller oder moralischer Unzulänglichkeit beziehungsweise mehr oder weniger offenkundiger physischer Inkompetenz, durch die sich politisch bewusste Frauen oft gezwungen sehen, an zwei Fronten zu kämpfen. Um ihren Kampf siegreich führen zu können, müssen die Frauen sich mit den unterdrückten Schichten und sozialen Klassen identifizieren: den Arbeitern, den Bauern …«.
Männer, die sich fortschrittlich geben, und »zugleich bereit wären, ihre Frauen schon beim geringsten Verdacht auf Untreue umzubringen«, werden von Sankara ebenso attackiert wie jene, die Ehebruch begehen, sich »in den Armen von Prostituierten und Kurtisanen vergnügen«, deren »Gehälter nur dazu dienen, sich Mätressen zu halten und den Getränkekonsum zu erhöhen«. Derartige Vertreter der »Spezies Mann« seien »nur bedauernswerte Wichte«. Sankara zitiert alle möglichen Formen der verbalen und physischen Angriffe auf und der Verächtlichmachung und Diskriminierung von Frauen. Er »konnte die Erniedrigung der Frauen, also die Prostitution, die in diesen Regionen sehr gefördert wird, nicht ertragen, auch die Exzision konnte er nicht ertragen, die Beschneidung der Frauen, das war eine physische Ablehnung, eine Entrüstung«, so Jean Ziegler.
Bilanzierend kommt Sankara nach dreieinhalb Jahren Umgestaltung zu dem Ergebnis, dass die Kulturrevolution, die »die Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau tiefgreifend ändert«, noch »unzureichend« sei. Aber die vielen Maßnahmen der Regierung, darunter das Verbot der Beschneidung und von Zwangsehen, hätten »ein Stück des Weges geebnet«. Auch deswegen könne sich sein Land »als Vorreiter im Kampf um die Befreiung der Frau bezeichnen«, jedoch »bei weitem noch nicht mit sich zufrieden sein«. Jedoch habe die Revolution »in ihren dreieinhalb Jahren an der schrittweisen Abschaffung von Praktiken gearbeitet, die die Frau entwürdigen; unter ihnen die Prostitution und mit ihr einhergehende Phänomene wie die Stadt- und Landstreicherei, die Kriminalität junger Mädchen, Zwangsehen, Genitalverstümmelung und andere für Frauen besonders schwierige Lebensumstände«.
Und zweifelsfrei trage die Revolution zu besseren Lebensbedingungen für Burkina Fasos Frauen bei, meinte der Präsident und erwähnte als Beispiele staatlichen Handelns die Lösung des Wasserproblems, den Bau von Mühlen in Dörfern, bessere Haushaltsführung, öffentliche Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, regelmäßige Impfungen, gesunde Ernährung. Als »Wirtschaftsakteurin ersten Ranges« sei die Frau »Erzeugerin und zugleich Konsumentin einheimischer Produkte«. Mann und Frau müssten sich zukünftig die Hausarbeit teilen, so seine Forderung. »Die Frauen brauchen die Männer, um zu siegen. Und die Männer brauchen die Siege der Frauen, um zu siegen.« Und, schließt Sankara, »keine Revolution – am wenigsten die unsere – wird siegreich sein, wenn nicht zuerst die Frauen befreit werden«.
Seine offenen Worte einer fulminant vorgetragenen Rede verdeutlichten die gemachten Fortschritte ebenso, wie sie den langen Weg veranschaulichten, der zur Veränderung von Denken und Verhaltensweisen notwendig ist. Der 8. März 1987 wird der letzte sein, den Thomas Sankara feiern kann. Seine Bilanz weckt Hoffnung und weist darauf hin, dass es auch unter komplizierten Bedingungen möglich ist, einen Weg aus dem überkommenen, zählebigen Unterdrückungsverhältnis, dem sich Frauen seit Jahrhunderten oder länger ausgesetzt sehen, zu finden, setzt aber neben dem Willen zur Veränderung auch voraus, sich einzumischen und selbst aktiv zu werden.
Gegen die Verwüstung
Ohne das Handeln der Bevölkerung keine Bewältigung der Probleme, so eine der Überzeugungen Sankaras. Er persönlich tat ruhelos alles, diese auch zu leben und sie zu verbreiten. Wie in Sachen Emanzipation so betrat er auf dem Kontinent als einer der ersten Staatschefs überhaupt auch mit dem Thema Umweltschutz politisches Neuland. 1985 hatte Afrika eine der größten Dürren der Geschichte hinter sich, und Burkina Faso unternahm ad hoc konkrete Maßnahmen gegen die Ausdehnung der Wüsten. Sankara setzte dabei nicht auf irgendwelche Entwicklungsprojekte westlicher Länder, deren Charakter er – beispielsweise vor der UNO – grundsätzlich kritisierte, weil sie tendenziell weitere Abhängigkeiten beförderten. Er setzte statt dessen auf eigene Programme und – mittels Überzeugung – auf deren Umsetzung durch die Bevölkerung.
Pierre Ouédraogo, Chef der Komitees zur Verteidigung der Revolution, erläuterte dazu: »Thomas Sankara legte sehr viel Wert auf den Umweltschutz und startete mehrere Initiativen. Ein Dorf – ein Wäldchen: Wo immer es möglich war, sollte wiederaufgeforstet werden. Es galt, ein allgemeines Umweltgewissen zu wecken und Umweltschäden zu reduzieren.« Die entsprechenden Maßnahmen genossen oberste Priorität. »Die zerstörerische Praxis der Buschfeuer und das Herumstreunen von Tieren, die unsere Grünflächen beschädigen«, konnten gestoppt werden, und weitere Projekte wurden von Millionen Freiwilligen angegangen, Bäume gepflanzt, Brunnen gebohrt, Wasserbecken und Wälder angelegt.
Sankara 1986: »Es ist Selbstvertrauen, das es der demokratischen Volksrevolution ermöglicht, jedes Jahr 8.363 Hektar Landfläche vor Erosion zu schützen statt nur 1.338 Hektar pro Jahr wie zwischen 1960 und 1983, 32 Staudämme und Regenrückhaltebecken pro Jahr zu bauen, statt nur insgesamt 20, wie in den Jahren von 1960 bis 1983, das gestaute Wasservolumen von 8.700.000 Tonnen in den Jahren von 1960 bis 1983 unter der Revolution auf 302.400.000 Tonnen innerhalb von drei Jahren zu erhöhen.«
Auf der Umweltkonferenz Silva im Februar 1986 in Paris erklärte Sankara, Ziel seiner Regierung sei es, »den Baum zu retten, die Umwelt und das Leben schlechthin« (Sauver l’arbre, l’environnement et la vie tout court). Ihm war zudem bewusst – damals eine noch wenig diskutierte Tatsache –, dass der Großteil der ökologischen Zerstörungen auf das Konto der kapitalistischen Zentren, der hochindustrialisierten Länder, geht. Diese trügen die maßgebliche Verantwortung für die ökologische Katastrophe, vor der die Erde steht. Dort müsste sie gelöst werden. Er folgerte: »Der Kampf für Baum und Wald ist vor allem ein antiimperialistischer Kampf. Denn der Imperialismus ist der Pyromane unserer Wälder und Savannen.«
Zweierlei Denkweisen
»In unserem Elend« allerdings, so Sankara zu den Widerständen, denen er sich ausgesetzt sah, »werden wir wie Aussätzige behandelt, deren Klagelieder und Aufschreie die gedämpfte Ruhe der Verursacher und Händler des Elends stören«. Offen kritisierte er erneut und plastisch die ökologischen Projekte innerhalb westlicher »Entwicklungshilfe«, »denn der fruchtlose, aber kostspielige Übermut einiger weniger Ingenieure und Forstwirtschaftsexperten wird nie zu etwas führen! Auch die zarten Gemüter, obwohl aufrichtig und lobenswert, der zahlreichen Foren und Institutionen können den Sahel nicht wieder ergrünen lassen, vor allem wenn man kein Geld hat, um in 100 Metern Tiefe Trinkwasserbrunnen zu bohren, aber Mittel in Hülle und Fülle, um Erdölbrunnen in 3.000 Meter Tiefe anzulegen! Wie Karl Marx sagte, man denkt weder an die gleichen Dinge noch auf die gleiche Weise, je nachdem, ob man in einer Hütte oder in einem Palast wohnt.«
Die acht Millionen Burkinabe hatten die Wirklichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts »schmerzlich verinnerlicht während der vergangenen 23 Jahre. Sie haben gesehen das Sterben der Mütter, Väter, Söhne und Töchter, die der Hunger, Krankheiten und Ignoranz zu Hunderten dahinrafften. Mit Tränen in den Augen haben sie erlebt, wie Meere und Flüsse austrocknen. Seit 1973 mussten sie sehen, wie die Umwelt verfällt, die Bäume sterben und die Wüste sich ausdehnt. Man schätzt, dass die Wüsten des Sahel sieben Kilometer jährlich vorrücken.« Seit der Revolution nun führe das Land »eine Schlacht gegen die Verwüstung. (…) Seit drei Jahren wird jedes glückliche Ereignis – Hochzeiten, Taufen, Feste, Besuche und anderes – begleitet von einem Anbau weiterer Bäume. So wurden als Teil des öffentlichen Programms zur Entwicklung innerhalb von 15 Monaten zehn Millionen Bäume gepflanzt – und das noch vor dem ersten Fünfjahrplan.«
Mehr als 35.000 Bauern würden allein im Februar und März 1984 Alphabetisierungskurse und solche zum ökonomischen Management und zur Organisation des Umweltschutzes besuchen. Zudem laufe die umfangreiche Operation »Volksernte von Saatgut für die Forstwirtschaft« mit dem Ziel, »7.000 dörfliche Baumschulen zu beliefern«. Die Verteidigung der Bäume und des Waldes sei eine »revolutionäre Aufgabe«, und »die Schlacht für ein grünes Burkina, die mit einer gewaltigen Mobilisierung begann, muss fortgesetzt werden«, so Sankara am zweiten Jahrestag der Revolution. Es ginge dabei um nicht mehr und nicht weniger als um ein »Gleichgewicht und um Harmonie zwischen dem Individuum, der Gesellschaft und der Natur«.
Um dieses »Gleichgewicht« und die »Harmonie« zu erreichen, müssten als Bedingung die Abhängigkeiten des Südens vom Norden beseitigt werden. Dazu gehören aus Sicht Sankaras vor allem drei Maßnahmen auf verschiedenen Feldern: Umstellung auf Eigenproduktion und damit die Zurückdrängung von zerstörerischen Importen; eine dementsprechende Veränderung des Konsumverhaltens der Bevölkerung; Streichung der durch den Süden längst getilgten Schuldenlast bei den Banken des Nordens, bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds. Diese spektakuläre Forderung wird Sankara 1987 noch ausführlich begründen. Doch an allererster Stelle steht die ökonomische Herausforderung. Sie wird angenommen, und deren Ergebnisse werden weltweit Aufsehen erregen.
Die Zahlen, die UN-Ernährungsspezialist Jean Ziegler nach vier Jahren Revolution zusammenfasste, zeugen davon, dass das Land aufgebrochen war zu neuen Ufern. »Die durchschnittliche Produktion von Weizen in der afrikanischen Sahelzone lag bei 1.600 Kilogramm. Bereits 1986 übertraf Burkina Faso die Marke mit 3.800 bis 3.900 Kilo Weizen pro Hektar. Die Agrarreform in Afrika ging auch mit dem Wandel der Eigentumsverhältnisse einher. Die Großgrundbesitzer verloren ihre Macht, und die Zwangssteuer wurde abgeschafft. Außerdem wurden Dünger- und Bewässerungssysteme eingeführt. Das war so effizient, dass der Hunger besiegt werden konnte. Innerhalb von vier Jahren erreichte Burkina Faso die Nahrungsmittelautonomie. Das war außergewöhnlich bemerkenswert.«
Anmerkungen:
1 Zit. nach: Eric van Grasdorff/Thea Kulla/Nicolai Röschert (Hg.): Die Ideen sterben nicht! Thomas Sankara. Reden eines aufrechten und visionären Staatsmanns. Berlin 2016, S. 193
2 Robin Shuffield (Regie): Thomas Sankara. The upright man (F: Thomas Sankara. L’homme intègre. D: Thomas Sankara. Der Che Schwarzafrikas), Dokumentarfilm, Frankreich 2006, 52 Min.
3 Andreas Pittler/Helena Verdel: Der große Traum von Freiheit, Wien 2010, S. 222
4 www.thomassankara.net/ziegler-in-deutschlandfunk
5 Thomas Sankara: Women’s liberation and the African freedom struggle, Toronto 1990
Gerd Schumann: Thomas Sankara. Papyrossa-Verlag, Köln 2025, 127 Seiten, 12 Euro
Gerd Schumann schrieb an dieser Stelle zuletzt am 19. August 2024 über Antifaschismus und Völkerfreundschaft als Staatsdoktrin der DDR: »Befreiung als Leitmotiv«
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