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Aus: Ausgabe vom 05.04.2025, Seite 12 / Thema
Außenpolitik

Freischwimmer im EU-Teich

Die Außenpolitik der Ampel hat die BRD zwar in die Klemme zwischen den USA und Russland geführt. Langfristig wichtiger dürfte aber die neue deutsche Führungsrolle innerhalb der EU sein
Von Arnold Schölzel
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Baerbock bei der Kontrolle deutschen Kriegsgeräts in der Ukraine, hier ein »Gepard«-Panzer (4.11.2024)

Bündnis 90/Die Grünen waren in der seit 1990 erweiterten Bundesrepublik so etwas wie die Trüffelschweine der US-Politik gegen Russland – vom NATO-Überfall auf Jugoslawien 1999 bis zur Unterstützung des Putsches von Nationalisten und Faschisten in Kiew 2014. Ende 2020, also knapp ein Jahr vor den Bundestagswahlen am 26. September 2021, lief die Partei erneut zur Hochform in dieser Disziplin auf. Am 18. September 2020 brachte sie im Bundestag einen Antrag ein, mit dem die Regierung aufgefordert werden sollte, sich von der Gaspipeline Nord Stream 2 »umgehend« zu distanzieren und deren Fertigstellung zu verhindern. Eine Begründung fehlte. Wahrscheinlich hätte es gereicht, auf den gemeinsamen Wunsch von Demokraten und Republikanern in den USA zu verweisen, die Gasröhre zu beseitigen. Die damalige Kovorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Annalena Baerbock, machte das Stahlrohr jedenfalls zum Dreh- und Angelpunkt der deutschen Außenpolitik: »Die Pipeline untergräbt die strategische außenpolitische Souveränität, und sie konterkariert die europäischen Klima- und Energieziele.« Die Merkel-Regierung aus CDU/CSU und SPD unterlaufe mit ihrer politischen Unterstützung dieser Pipeline jegliche Sanktionen gegen Russland und unterstütze »über den Gaskonzern Gasprom auch noch den Kreml mit Milliardeneinnahmen«.

Selbst aus der SPD-Fraktion fragten damals Zwischenrufer, ob sie für Frackinggas sei. Die Frage wurde nicht beantwortet, aber die Antwort hätte »ja« lauten müssen. Die Frackingfans um den damals dem Ende seiner ersten Amtsperiode entgegensehenden US-Präsidenten Donald »Drill, baby, drill« Trump sahen es jedenfalls mit Vergnügen. Der republikanische US-Senator Ted Cruz hatte im August 2020 per Brief dem Verladehafen für Nord-Stream-2-Röhren Sassnitz-Mukran auf Rügen »vernichtende« Sanktionen angedroht. Er bezeichnete Wladimir Putin als »KGB-Schläger« und sorgte sich, die Bundesrepublik werde mit der neuen Pipeline in die Hände der russischen Mafia fallen.

Davor haben die seit dem 8. Dezember 2021 regierende Ampelkoalition und insbesondere ihre Außenministerin Baerbock die Bundesrepublik bewahrt. Nord Stream 2 und dessen Sprengung wurden zum Symbol ihrer nun zu Ende gehenden Cheftätigkeit im Auswärtigen Amt: Die durch US-Präsident Joe Biden am 7. Februar 2022 beim Antrittsbesuch von Olaf Scholz in Washington angekündigte Sprengung der Leitung, falls Russland die Ukraine angreife, lieferte die Legitimation für den Niedergang der deutschen Volkswirtschaft, aber auch für die bis dahin größte Aufrüstung der deutschen Nachkriegsgeschichte. Bereits vor der Explosion in der Ostsee im September 2022 machte die Ampel die Bundesrepublik abhängig von Frackinggas – vor allem aus den USA – und sorgte für eine Explosion der Energiepreise. Als in den vergangenen Tagen aus der CDU einzelne Politiker verlangten, wieder auf russisches Gas zu setzen, kam eine Schimpfkanonade aus Richtung der Grünen. Es geht offenbar um Grundsätzliches.

Außenpolitisch war die Ampel eine Kriegskoalition mit Hemmungen. Die resultierten aus der soweit noch gesteigerten Unterwerfung unter US-Interessen. Baerbock und ihre Parteifreunde wollten zwar, ähnlich wie Kiew, öfter als Schwanz mit dem US-Hund wackeln, scheiterten jedoch. Aber Kanzler Olaf Scholz (SPD) rühmte sich bei seiner Abschiedsrede am 16. Dezember 2024 im Bundestag zu Recht, dass seine Regierung nach den USA am meisten Waffen in die Ukraine geliefert habe. Spätestens ab 2028, so seine Ansage, kämen nun aber Kosten allein für die Bundeswehr in neuer Dimension auf die Staatskasse zu, mindestens 30 Milliarden Euro pro Jahr mehr als bisher. Entsprechend geräuschlos und überfallartig einigten sich dann auch CDU/CSU nach deren Wahlsieg am 23. Februar mit der SPD auf unbegrenzte Rüstungsausgaben per Grundgesetzänderung. Aus dem Trott des bis dahin üblichen »Sparens« heraus – öffentlichen Dienst schrumpfen, Infrastruktur privatisieren, Bildungs- und Gesundheitswesen kommerzialisieren – ist das auch von der dritt- oder viertgrößten Volkswirtschaft der Welt nicht zu bewältigen. Jetzt geht es mit Galopp zum Verschießen von Billionen Euro.

Die Ampel hat die »Kriegstüchtigkeit« vorbereitet und die Abhängigkeit von den USA mit dem Freischwimmen im EU-Teich verbunden. Die Scharfmacherrhetorik von Baerbock, Robert Habeck, Anton »Panzertoni« Hofreiter oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) war die dazu nötige Begleitmusik. Das von Scholz durchgehaltene Nein zu »Taurus«-Lieferungen an Kiew und zur Entsendung deutscher Soldaten in die Ukraine ändert an dieser Bilanz nichts. Der künftige Kanzler Friedrich Merz hat den »Taurus« nicht von der Liste genommen. Was die Ampel begonnen hat, vollendet die vermutlich zukünftige Koalition aus CDU/CSU und SPD.

Alles gegen Moskau

Die außenpolitischen Aktionen der Bundesregierung erscheinen dabei weniger bemerkenswert: Hauptergebnisse sind die »Zeitenwende«, dilettantische Versuche, den globalen Süden für westliche Politik zu interessieren, und schließlich der Umgang mit dem wiedergewählten Trump. Die Konstante dabei – keinerlei Zugeständnisse oder gar Gespräche mit Russland – hat eine längere Vorgeschichte, die hier kurz skizziert werden soll.

Den unbedingten Willen zur Aufrüstung gegen Russland hatten Baerbock und Habeck bereits lange vor den Bundestagswahlen 2021 zum Kern des Wahlkampfes ihrer Partei gemacht. Das entsprach den Ansichten Trumps, aber auch des am 3. November 2020 gewählten demokratischen US-Präsidenten Biden. Bündnis 90/Die Grünen setzten sich damit auch von den Verfechtern von Nord Stream 2 in der Merkel-Regierung ab. Scholz bezeichnete noch im Herbst 2021 die Pipeline als ein wirtschaftliches, kein politisches Vorhaben.

Das nahm Baerbock nicht hin. Am 30. November 2020 eröffnete sie ihren Wahlkampf in der Süddeutschen Zeitung. Die verkündete auf Seite eins: »Baerbock will Bundeswehr stärken«. Die Schlagzeile fasste den Inhalt eines Interviews mit der Parteikovorsitzenden zusammen. Bereits zuvor hatte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am 18. November 2020 in der Rheinischen Post bellizistischen Klartext gesprochen: »Die Grünen haben auch pazifistische Wurzeln, waren aber noch nie eine pazifistische Partei.« Sie würden sich aber die Entscheidung über Auslandseinsätze »nicht leicht« machen. Das war noch die alte Formel: Wer Grüne wählt, wählt den Krieg, der schwerfällt. Das sollte sich mit Baerbock ändern: Sie sorgte dafür, dass die Unterstützung der Ukraine und ab Oktober 2023 Israels Normalität wurde.

Das Argumentationsmuster, dem Baerbock in der Süddeutschen Zeitung folgte, sollte sich bis zum Ende ihrer Amtszeit nicht mehr ändern. Es war so gesehen das ideologische Vorspiel zur deutschen Billionenaufrüstung, die Anfang 2025 von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen per Grundgesetzänderung durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht wurde. Im November 2020 sagte Baerbock, die Ukraine-Krise habe gezeigt, »dass die eigene Bündnisverteidigung zentral für unsere polnischen und baltischen Partner ist«. Es gehe »um flexible, schnell verlegbare Einheiten im Bündnisgebiet, genauso um Gefährdungslagen wie Cyberattacken, eine neue Form der Kriegführung«. Denn: »Europa kreist seit Jahren um sich selbst, die Trump-Administration hat der Welt den Rücken zugekehrt. Die Lücke, die entstanden ist, füllen autoritäre Staaten.« So seien Russland und die Türkei »in unserer Nachbarschaft aktiv« und die EU bleibe »wie im Fall Bergkarabach außen vor«.

Anders gesagt: Der Russe droht im Osten, der Ami ist ein unsicherer Kantonist. Da hilft nur deutsche Aufrüstung. Es müsse mehr »Investitionen« in die Bundeswehr geben, »damit Gewehre schießen und Nachtsichtgeräte funktionieren«. Die Grundsätze bündnisgrüner Außen- und Militärpolitik in einer künftigen Regierung waren geklärt.

Antirussische Hetze

Ihren Wahlkampf bestritten die im April 2021 zur Kanzlerkandidatin ihrer Partei gekürte Baerbock und ihr Partner Robert Habeck außenpolitisch fast ausschließlich mit Hetze gegen Russland. Habeck übernahm dabei die Rolle des Bösen, Baerbock flötete mehr von Werten. Sie verkündete aber zum Beispiel am 26. April 2021 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Leitparole: Es sei jetzt »das Wichtigste, den Druck auf Russland zu erhöhen«. Die Bundesregierung unterlaufe die Sanktionen, weil sie an Nord Stream 2 festhalte.

Noch musste aber für den Druck in der eigenen Partei gearbeitet werden. Als sich zum Beispiel Robert Habeck am 26. Mai im DLF von der ukrainischen »Front« gegen Russland meldete und seine Forderung nach Defensivwaffen für Kiew erneuerte, kam Gegrummel aus der Mitgliedschaft. Habecks Begründung hörte sich so an wie die deutschen Kriegsreden vor dem russischen Angriff im Februar 2022: Die Ukraine kämpfe »nicht nur für sich selbst«, sondern verteidige auch »die Sicherheit Europas«.

Kurz vor dem Wahltermin – Kanzlerkandidatin Baerbock hatte die Umfragewerte ihrer Partei bereits halbiert – feuerte sie selbst am 23. September 2021 noch die Räuberpistole ab, Putin wolle Gas zur Erpressung Deutschlands nutzen und dessen Bevölkerung in der Kälte sitzen lassen. Baerbock ließ sich vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) zitieren: »Das Putin-Regime will politischen Druck aufbauen. (…) Die Leidtragenden sind die Kunden in Deutschland, deren Gaspreise steigen werden oder die im Extremfall sogar im Kalten sitzen müssen. (…) Deutschland ist nun in der Erpressungssituation, vor der ausgiebig gewarnt wurde.« Einige Minuten bevor das ins Internet geblasen wurde, erklärte im ZDF Gaslobbyist Timm Kehler, Grund für hohe Gaspreise seien allein »die gewachsenen Nachfragen, die wir in Asien erleben«. Die Lieferung des russischen Konzerns Gasprom habe in diesem Jahr nach Europa »40 Prozent über dem Niveau« des Vorjahres gelegen, von künstlicher Verknappung könne »keine Rede« sein.

Das Wahlergebnis vom 26. September – SPD 25,7 Prozent, Union 24,1 Prozent, Bündnis 90/Die Grünen 14,7 Prozent, FDP 11,4 Prozent – traf mit einer Krisensituation des deutschen Imperialismus zusammen. Es zeichnete sich ab, dass dessen wirtschaftliche Großmachtstellung bröckelte. Am Ende der Ampel stand mit 2025 das dritte Rezessionsjahr bevor. Die Auseinandersetzung um das Stoppen dieser Erosion – im Jargon von Kapital und Ökonomen die »Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit« – bestimmte letztlich die Regierungspolitik.

Besonders erfolgreich war die Ampel dabei nicht. So scheiterten alle Versuche, die Kontakte zu Ländern des globalen Südens auszubauen. Baerbock und Scholz machten sich bei ihren Afrikareisen lächerlich. Scholz wurde bei einem Besuch in Addis Abeba im Mai 2023 demonstrativ unhöflich abgefertigt, Baerbock musste sich von ihrer südafrikanischen Kollegin Naledi Pandor anhören, es sei vielleicht kein Zufall, dass sie Gesprächskanäle nach Kiew und nach Moskau habe. Fast alle 54 Staaten Afrikas teilen nicht die westliche Sicht auf Ursachen und Ziele des Ukraine-Krieges, vom Krieg Israels ganz zu schweigen. Südafrika veranstaltete zum Beispiel ausgerechnet zum Jahrestag des russischen Eingreifens in den seit 2014 andauernden Krieg im Frühjahr 2023 ein gemeinsames Marinemanöver mit China und Russland.

Einer Ohrfeige für Scholz kam die Weigerung des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva am 31. Januar 2023 gleich, Munition für deutsche »Gepard«-Flugabwehrpanzer in die Ukraine zu liefern: »Brasilien ist ein Land des Friedens. Und deswegen will Brasilien keinerlei Beteiligung an diesem Krieg – auch nicht indirekt.« Lula äußerte sich auf der Pressekonferenz mit Scholz auch zum Krieg, den Israel gegen die Palästinenser führt. Er habe schon mit vielen israelischen Präsidenten und auch Palästinensern gesprochen: »Es gibt aber einfach Leute, die keinen Frieden wollen. Ich habe noch nie einen Krieg gesehen, in dem vorzugsweise Kinder und Frauen sterben.«

Im globalen Süden hinterließ die Ampel, wenn schon keinen Trümmerhaufen, dann die Gewissheit, dass diese Bundesregierung an den neokolonialen Bestrebungen des Westens und am Kampf um dessen Vormachtstellung unmittelbar beteiligt ist. Isolation lässt sich das nicht nennen, aber dominantes Misstrauen.

Verschärfung der Spannungen

Bereits der Koalitionsvertrag vom Herbst 2021 war ein Kriegspapier, wenn auch im Vergleich zu dem, was 2025 folgen soll, nur ein kleiner Schritt. Alle drei Ampelparteien fielen in der Frage der nuklearen Teilhabe um – kein Wort über den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland. Bis dahin hatten sich aber Teile der SPD und der Grünen dazu bekannt. Im Juni 2021 hatten letztere noch einen eigenen Antrag mit diesem Ziel in den Bundestag eingebracht. Nun wird der Fliegerhorst Büchel, an dem US-Atombomben lagern, mit einem deutschen Milliardenbetrag ausgebaut. Die bis dahin vehement von SPD und Grünen abgelehnte Drohnenbewaffnung sollte jetzt durchgesetzt werden. Alles, was im Wahlkampf gegen Rüstungsexporte gesagt worden war, wurde gebrochen. Der Rüstungsetat sollte wie von der NATO verlangt auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden.

Unter Führung Bidens verschärfte der Westen Ende 2021 zugleich die Spannungen mit Moskau. Einige Beispiele: Am 6. Oktober 2021 wies die NATO acht bei ihr akkreditierte russische Diplomaten aus, weil sie Geheimdienstler seien. Russland brach daraufhin faktisch die Beziehungen zur Kriegsallianz ab. Am 20. Oktober erklärte Russlands damaliger Verteidigungsminister Sergej Schoigu in Moskau, die NATO baue ihre Präsenz in der Nähe der Grenze von Belarus aus und veranstalte dort jährlich mehr als 30 Manöver, in denen »eine bewaffnete Konfrontation mit Russland« geübt werde. Daran seien immer mehr Nicht-NATO-Mitglieder wie Georgien, die Ukraine oder Schweden beteiligt. Die Antwort: Am 21. und 22. Oktober 2021 verabschiedeten die NATO-Verteidigungsminister einen neuen »Masterplan« zur atomaren Abschreckung Russlands. Die damalige deutsche Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) tat sich am 21. Oktober im DLF-Interview mit der Drohung hervor, die NATO müsse bereit sein, Atomwaffen gegen Russland einzusetzen. In deutschen Medien außer in jW wurde das nie erwähnt, obwohl selbst der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich die Rhetorik »verantwortungslos« nannte. Moskau überreichte eine Protestnote – keine Notiz in deutschen Medien.

In Washington verbreitete sich Ende November 2021 Hysterie wegen Nord Stream 2. Die am 8. Dezember ernannte Außenministerin Baerbock folgte dem und goss Öl ins Feuer, als sie am 12. Dezember im ZDF ankündigte, Nord Stream 2 könne nicht genehmigt werden. Die Aussage erhöhte international die Gaspreise sprunghaft.

Am 17. Dezember überreichte schließlich die russische Regierung einer US-Sondergesandten in Moskau eine Reihe von Vorschlägen für verbindliche Sicherheitsgarantien, die diese zur Beratung mit den NATO-Partnern mit nach Brüssel nahm. Moskau forderte, dass sich die NATO nicht weiter nach Osten ausdehnt und in der Ukraine oder benachbarten Ländern keine Raketen stationiert werden, die von dort innerhalb kürzester Zeit Ziele in Russland treffen können. Das wies der kollektive Westen umgehend zurück – es war eine Absage an jede Art von Gesprächen über Sicherheitsinteressen Russlands – eine Art Point of no Return. Wladimir Putin erklärte kurz danach vor hohen Beamten des Verteidigungsministeriums in Moskau: »Weiter können wir nicht mehr zurückweichen.« Er zitierte damit einen Befehl Stalins an die Rote Armee aus dem Sommer 1942, der zur Wende im Zweiten Weltkrieg in der Schlacht von Stalingrad geführt hatte.

Nach einem Videogespräch von Biden und Putin am 30. Dezember 2021 fanden bis Mitte Januar 2022 zwar Gespräche zwischen Russland und den USA in Genf statt. Am 14. Januar erklärte Moskau sie aber für gescheitert, und Außenminister Sergej Lawrow erklärte, Moskau erwarte von der westlichen Seite schriftliche Antworten auf seine Forderungen. Mündliche Zusicherungen reichten nicht, weil der Westen solche in der Vergangenheit nie eingehalten habe. Gleichzeitig diskutierten die westlichen Länder öffentlich, welche Sanktionen sie im Fall eines russischen Einmarsches in die Ukraine beschließen sollten. Zu den Maßnahmen sollte unter anderem der Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT gehören, was der damalige Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) als »Atombombe« bezeichnete und ablehnte: Es seien »massive ökonomische Rückschläge auch für unsere Volkswirtschaften« zu befürchten. Zugleich betonte er, dass er die Entscheidung für Nord Stream 2 für einen Fehler halte, da die Pipeline aber »nun schon mal fertiggestellt« sei, halte er es für richtig, sie jetzt auch »in Betrieb zu nehmen«.

Kurz nach dieser Klarstellung des Westens, Moskau habe keinerlei Anspruch auf Sicherheit, reiste Scholz nach Washington zum Antrittsbesuch. Das wichtigste Ergebnis, wie oben erwähnt: Biden teilte in Scholz’ Anwesenheit öffentlich mit, dass es Nord Stream 2 nicht mehr geben werde, wenn Russland die Ukraine militärisch angreife. Scholz nahm das stumm hin und sprach von einer »Doppelstrategie aus Dialog und Abschreckung«. Die deutsche Außenpolitik hatte sich auf die bedingungslose Unterwerfung unter Washingtons Russland- und China-Politik reduziert. Das zeigte sich auch bei seinem Besuch in Moskau am 13. Februar 2022. Während des Gesprächs zwischen Putin und Scholz sprach sich das russische Parlament, die Duma, mit überwältigender Mehrheit für die Anerkennung der international nicht anerkannten »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk aus. Der Beschluss kam auf Antrag der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) zustande.

Scholz machte sich in Moskau dadurch unvergesslich, dass er seinem Gastgeber und den Fernsehzuschauern bei der Abschlusspressekonferenz auftischte: »Für meine Generation ist Krieg in Europa undenkbar geworden, und wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt. Es ist unsere verdammte Pflicht und Aufgabe als Staats- und Regierungschefs, zu verhindern, dass es in Europa zu einer kriegerischen Eskalation kommt.« Den sachlichen Hinweis Putins, es habe doch einen Krieg in Europa gegeben, den Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien von 1999 ohne UN-Mandat, wischte der Deutsche beiseite: 1999 sei es um »Völkermord« gegangen.

Der Rest ist »Zeitenwende«

Die Bundesregierung und der Westen insgesamt erscheinen aus der Rückschau gut vorbereitet, als Moskau am 24. Februar 2022 seine Truppen in die Ukraine einmarschieren ließ. Drei Tage später verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und ungefähr der Hälfte der AfD-Fraktion eine Grundgesetzänderung und schuf das »Sondervermögen Bundeswehr« in Höhe von 100 Milliarden Euro. Die Linke-Fraktion konnte nur mit Mühe an einer Zustimmung gehindert werden.

Seit dieser »Zeitenwende« genannten Aggressionsverfügung gab es in der deutschen Außenpolitik nichts wesentlich Neues. Die 2023 veröffentlichte erste »Nationale Sicherheitsstrategie« wurde kaum beachtet, noch weniger die von Baerbock kurz danach vorgestellte China-Strategie. Die Ampel konzentrierte sich darauf, im westlichen Verbund jede Verhandlungslösung für ein Kriegsende zu torpedieren. Das begann bereits im März und April 2022, als in Istanbul unterschriftsreife Waffenstillstandsabkommen vorlagen; es endet gegenwärtig mit dem Versuch, ein mögliches Übereinkommen zwischen den USA und Russland zu durchkreuzen. Die Grundlagen dafür wurden mit dem Bruch der Versprechen gelegt, die 1989/1990 der Sowjetunion gegeben worden waren. Deren Ende 1991 war die wirkliche »Zeitenwende«, die der Westen einschließlich Bundesrepublik nutzte, um von der Nachkriegs- zur Vorkriegszeit überzugehen. Die NATO-Ostexpansion belegt das.

Die Leistung der Ampelkoalition besteht darin, dass sie für die offene deutsche Kolonialpolitik in Osteuropa im eigenen Land eine Massenbasis geschaffen hat. Das ist ihr vor allem in Westdeutschland gelungen. Dem Freischwimmen folgt nun das Leistungstraining für den Krieg, gesponsert mit Billionen Euro.

Arnold Schölzel schrieb an dieser Stelle zuletzt am 17. August 2024 über die Tagebücher von Maurice Thorez: »Schönschrift, manchmal kyrillisch«

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. April 2025 um 10:19 Uhr)
    Der Artikel von Arnold Schölzel ist ein inhaltlich dichter, polemisch zugespitzter Kommentar zur deutschen Außenpolitik unter der Ampelkoalition. Nachvollziehbar ist die Darstellung einer kontinuierlich antirussisch geprägten Außenpolitik, insbesondere unter der Führung der Grünen. Baerbock und Habeck erscheinen in der Analyse als besonders konsequente Vertreter einer konfrontativen Linie gegenüber Russland sowie als zuverlässige Unterstützer der US-amerikanischen Position. Der Begriff »Zeitenwende« wird vom Autor als rhetorische Chiffre für eine schon vor 2022 vorbereitete aggressive militärpolitische Neuausrichtung interpretiert. In dieser Lesart erscheint die Ampelregierung nicht als souveräner Akteur, sondern als loyaler Vollstrecker strategischer Interessen der USA. Insbesondere der Auftritt von Olaf Scholz an der Seite von Joe Biden kurz vor der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines wird als Symbol bedingungsloser Gefolgschaft gegenüber Washington gedeutet. Weniger überzeugend ist jedoch die Einschätzung der innereuropäischen Rolle Deutschlands. Trotz grundsätzlicher Kritik an der deutschen Außenpolitik – die meines Erachtens nie wirklich eigenständig, sondern stets klar NATO-gelenkt agiert – scheint der Artikel eine gestärkte deutsche Führungsrolle innerhalb der EU zu fordern: eine Art geopolitischer »Freischwimmer« im europäischen Becken. Diese Erwartung wirkt widersprüchlich. Ein Staat, der sich außenpolitisch in einer so klaren Abhängigkeit befindet, kann kaum glaubwürdig Führungsansprüche erheben – weder ökonomisch noch politisch oder militärisch. Die Vorstellung, Deutschland könne noch eine eigenständige europäische Hegemonialmacht werden, erscheint vor dem Hintergrund realpolitischer Entwicklungen als illusionär. Dieser Zug ist längst abgefahren.

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