Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 07.04.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Ideologiekritik

Der Krieg als Chance

Fasziniert von der Gnadenlosigkeit: Enzo Traverso über israelische Kriegsverbrechen und die »deutsche Frage«
Von Susann Witt-Stahl
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Wertegeleitet: Annalena Baerbock besichtigt den israelischen Grenzübergang Kerem Schalom (26.3.2024)

Der gegenwärtige Gazakrieg führt zu atemberaubenden Verwerfungen. Mit der Entgrenzung von militärischer Gewalt und Zerstörung korrespondieren eine infame Lügenpropaganda in der westlichen Welt und eine selten gekannte Entschlossenheit, linke und andere humanistische Positionen zu kriminalisieren. Die Unmöglichkeit und Unangemessenheit, diesen Phänomenen mit »gelassener Distanz« zu begegnen, bewogen den italienischen Historiker Enzo Traverso, es gar nicht erst zu versuchen. Er zog es vor, einen Essay zu schreiben, aus dem der nicht zuletzt gegen das israelische Besatzungsregime gerichtete Appell »Empört euch!« des ehemaligen Résistance-Kämpfers Stéphane Hessel von 2010 widerhallt.

Traversos zorniger Einspruch richtet sich besonders gegen den deutschen Staat, dem es durch Erwerb eines welthistorischen Persilscheins gelungen ist, zum anerkannten Apostel »wertegeleiteter Außenpolitik« aufzusteigen. Denn er hat wie kein anderer das Kunststück vollbracht, die Erinnerung an ein von ihm zu verantwortendes Menschheitsverbrechen zu missbrauchen, um einen Genozid in der Gegenwart zu rechtfertigen. Das sei »etwas Neues und historisch noch nie Dagewesenes«, betont Traverso. Daher liege seiner Streitschrift »von Anfang bis Ende die ›deutsche Frage‹ zugrunde«.

Das gilt vor allem bei der Analyse von Strategien der Schuldabwehr in den proisraelischen Narrativen. So verweist Traverso auf Martin Heideggers ideologische Verrenkungen, mit denen er 1948 Deutschland als Opfer von Aggressionen darstellte, und kommt zu dem Schluss: »Heutige Nachrichtenredaktionen sind mehrheitlich ›heideggerianisch‹ geprägt.« Der Autor zieht eine Reihe solcher Analogien, »nicht Homologien«, heran – auf diesen relevanten Unterschied legt er Wert. Manchmal schießt er über sein ehrenwertes Ziel, das erschreckende Ausmaß des Schlachtens in Gaza deutlich zu machen, hinaus. Es gelingt ihm dennoch, Anstrengungen, sein Anliegen mit Vorwürfen des Antisemitismus und der Holocaustrelativierung zu besudeln, als demagogisch zu entlarven. Solche Attacken zeigten nur, meint Traverso, »wie kurzsichtig, gefühllos und verderblich eine mystische, exklusive und selbstreferentielle Erinnerung werden kann«.

Dieser begegnet Traverso nicht zuletzt mit systematisch unterschlagenen Fakten, die das Klischee von der Hamas als »blutrünstige Bestien« nicht bedienen (ohne darauf zu verzichten, den »reaktionären Charakter« dieser Bewegung zu kritisieren) – etwa, dass sie Holocaustleugnung verurteilt hat. Zudem beleuchtet er sorgfältig verschleierte Kontexte des Angriffs vom 7. Oktober, deren Erwähnung weithin tabu ist. »Auf einer Rave-Party ein Blutbad anzurichten, ist zweifellos ein abscheuliches Verbrechen, das bestraft gehört«, so Traverso. Um dann hinzuzusetzen: »Eine Rave-Party neben einem Freiluftgefängnis, geschützt durch eine Mauer, ist jedoch nicht so harmlos wie ein Konzert in Paris.«

Indem Traverso Geschichtsklitterungen und Fake News der Israel-Lobby seziert, legt er die vom Ideologienebel eines mittlerweile in seiner Bedeutung ins Gegenteil verkehrten »Nie wieder!«-Imperativs verhüllte barbarische Seite der kapitalistischen Zivilisation und ihrer »schlauen Bomben« frei. Ebenso äußerst hässliche Allianzen: Fasziniert von der Gnadenlosigkeit, mit der die israelische Armee und nationalreligiöse Siedler ihre Brutalität an palästinensischen Zivilisten austoben, tanzt die faschistische Internationale, darunter auch die antisemitische, heute um die Fahne des »Judenstaats« wie Motten ums Licht.

Dass die »zoologische Sprache« der Kolonialisten, die Traverso in Anlehnung an Frantz Fanon analysiert und mit der die Palästinenser als »Kakerlaken in einer Flasche« – wie Rafael Eitan, Generalstabschef der israelischen Armee, sie 1983 nannte – zur Vernichtung freigegeben werden, zunehmend Gefallen beim bürgerlichen Mainstream, auch und gerade in Deutschland, findet, untermauert eine der wichtigsten Thesen des Buches: Die verordnete »Staatsräson« der »Israel-Solidarität« ist nichts anderes als »die uneingestandene Übertretung des Gesetzes im Namen eines übergeordneten Sicherheitsimperativs«. Mit dem Vorwand der »Verantwortung für jüdisches Leben«, von der nicht- und antizionistische Juden ausgenommen sind, meldet das kriegstüchtige Deutschland seinen Anspruch auf Mitnutzung der »Handlungsspielräume« an, Massenmord und andere schwere Verbrechen zu begehen, die der Welthegemon USA seit jeher begangen hat. Der international kursierende böse Witz, den Traverso zitiert, über die »Chance«, die der Gazakrieg Deutschland eröffnet hat, ist schaurige Wahrheit: Wenn es einen Genozid zu verüben gebe, »dann stellt es sich immer auf die Seite der Täter«.

Enzo Traverso: Gaza im Auge der Geschichte. Wirklichkeit Books, Berlin 2024, 112 Seiten, 18 Euro

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