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Aus: Ausgabe vom 07.04.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Atomenergie

Eindrucksvolle Geschwindigkeit

Eine Geschichte der sowjetischen Atomenergienutzung und -forschung
Von Dieter Reinisch
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Ein Mitarbeiter des Forschungsinstituts für Atomreaktoren in Melekess (ab 1972 Dimitrowgrad) im September 1967

Die Elektrifizierung des ganzen Landes war ein politisch-ökonomisches Ziel Lenins nach der Oktoberrevolution. Die Sowjetunion machte in den 20er und 30er Jahren rasche Fortschritte, vor allem im Bereich der hydraulischen Energiegewinnung durch Flusskraftwerke und Staudämme. Aber schon früh gab es, was wenig bekannt ist, eine Forschung auf dem Feld der Atomenergie. Kein anderer als Trotzki frohlockte 1926: »Dann eröffnet sich die Möglichkeit, Kohle und Öl durch Atomenergie zu ersetzen, die auch zur wichtigsten Antriebskraft wird. Das ist keineswegs eine hoffnungslose Aufgabe. Was für Aussichten eröffnen sich uns!«

Intensiv wurde in der Sowjetunion an der neuen Technologie geforscht. Zentrum dieser Forschungsanstrengungen war Leningrad. Gleichzeitig versuchte das sowjetische Radiuminstitut, geeignete Abbaumöglichkeiten für Radium und später Plutonium und Uran zu finden. Minen in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken wurden erschlossen.

Es kam früh zu beachtlichen Fortschritten, betonen die beiden Stockholmer Technologie- und Wissenschaftshistoriker Per Högselius und Achim Klüppelberg in einem Abriss zur Geschichte der sowjetischen Nuklearenergienutzung. Die Technologiefortschritte der 30er Jahre seien vor allem aufgrund der äußeren Umstände bemerkenswert gewesen. Die Welle der Repressionen habe auch die Wissenschaftler erfasst. »Trotz dieser schockierenden Ereignisse entwickelten sowjetische Atomphysiker in eindrucksvoller Geschwindigkeit ihre Technologien in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg«, schreiben sie.

Allerdings gab es noch keinen Weg zu einer praktischen Anwendung. Dies änderte sich während des Krieges, als die Forschungseinrichtungen von Leningrad nach Moskau verlegt wurden. Hier erfolgte zunächst eine Fokussierung auf die militärische Anwendung. Im August 1945 wurden auf Hiroshima und Nagasaki die ersten US-Atombomben abgeworfen. Vier Jahre später erfolgte der erste Atomwaffentest der Sowjetunion – viel früher, als das in den USA, die damit ihr Monopol auf diese neuartige Waffe verloren, erwartet worden war. 1954 stach das erste sowjetische Atom-U-Boot in See.

Überraschend schnell – und schneller als im angeblich innovativeren Westen – erfolgte allerdings auch der Übergang zur zivilen Nutzung. 1954 stach bereits der atomgetriebene Eisbrecher »Lenin« in See. Ebenso wurde das Atomkraftwerk Obninsk eröffnet – das erste Atomkraftwerk der Welt, das Strom ins zivile Netz speiste: »Nur neun Jahre, nachdem die USA die Welt mit ihrer Atombombe schockierten«, hatte die UdSSR »die westliche Forschung überholt und die Anwendung von Kernspaltung für nichtmilitärische Nutzung gezeigt«. Rund 30 Jahre später allerdings zerstörte der Super-GAU in Tschernobyl das noch verbliebene »fortschrittliche« Image der Kernenergie.

Die umfassende Nutzung der Atomenergie hat die Infrastruktur der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aber bis heute geprägt, wie Högselius und Klüppelberg zeigen. Bahnlinien wurden zum Transport von Uran und Abfallprodukten gebaut, Stauseen angelegt und Flüsse für Kühlwassernutzung reguliert. In der ganzen Sowjetunion entstanden Planstädte um die Atomkraftwerke. Dieses sowjetische Erbe spielt bis heute eine entscheidende ökonomische Rolle; so deckten Atomkraftwerke 2021 55 Prozent des Energiebedarfs in der Ukraine.

Per Högselius, Achim Klüppelberg: The Soviet Nuclear Archipelago. A Historical Geography of Atomic-Powered Communism. CEU Press, Budapest 2024, 176 Seiten, 15,95 Euro

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (7. April 2025 um 08:47 Uhr)
    »Kein anderer als Trotzki frohlockte 1926: ›Dann eröffnet sich die Möglichkeit, Kohle und Öl durch Atomenergie zu ersetzen‹«. Das soll Trotzki 1926 gesagt haben, zu einem Zeitpunkt, als er schon längst die Seite gewechselt hatte und den Aufbau des Sozialismus sabotierte, wo es nur ging? Das Frohlocken dürfte ihm in dieser Zeit vergangen sein: Er verlor im Januar 1925 seinen Posten als Kommissar für das Kriegswesen, 1926 wurde er aus dem Politbüro und im November 1927 aus der KPdSU ausgeschlossen. Aber immerhin wird in diesem Artikel die friedliche Nutzung der Kernenergie nicht pauschal negativ dargestellt (…).

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