Jeder darf mal
Von Holger Römers
Der erste von vielen dramatischen Höhepunkten der am Sonntag ausgetragenen 109. Flandern-Rundfahrt verdankte sich leider einem bösen Sturz. Dabei kam Topfavorit Mathieu van der Poel (Alpecin – Deceuninck) nach gut der Hälfte der 269 Kilometer langen Strecke glimpflich davon. Zehn Minuten später war der 30jährige Niederländer, der dieses Monument des Radsports 2024, 2022 und 2020 gewonnen hatte und dazwischen jeweils Zweiter gewesen war, wieder an der Spitze des Pelotons. Allerdings stellte sich die Frage, ob der nötige Kraftaufwand im Rennfinale zu Buche schlagen würde.
Tadej Pogačar (UAE Team Emirates – XRG) blieb als zweiter Topfavorit sturzfrei. Doch der 26jährige Slowene, der die »Ronde« 2023 gewonnen hatte, musste für den Rest des mit Hügeln und Kopfsteinpflaster gespickten Rennens auf mindestens zwei Kollegen verzichten, die von der Karambolage aufgehalten worden waren. Das mochte vier Top-ten-Kandidaten dazu animieren, nacheinander aus dem Fahrerfeld auszubüxen: Gut 108 Kilometer vorm Ziel bildete Stefan Küng (Groupama – FDJ) eine Viergruppe, zu der auch Tiesj Benoot (Team Visma – Lease a Bike) gehörte. Acht Kilometer später fand sich Filippo Ganna (Ineos Grenadiers) in einem weiteren Quartett, das Matteo Trentin (Tudor Pro Cycling Team) initiiert hatte.
Um den Vorsprung dieser Fahrer, von denen einige in der bald eingeholten Ausreißergruppe des Tages auf Kollegen trafen, nicht gefährlich anwachsen zu lassen, musste Pogačar die Kräfte seiner restlichen Helfer verausgaben. So war der Weltmeister isoliert, als die zweite von drei Überquerungen des Oude Kwaremonts anstand und Wout van Aert sowie Matteo Jorgenson (beide Team Visma – Lease a Bike) sich von einem Kollegen an die Spitze des Fahrerfelds pilotieren ließen. Folgerichtig ritt Pogačar 56 Kilometer vorm Ziel selbst eine erste Attacke, die neben van Aert und Jorgenson auch Mads Pedersen (Lidl – Trek) schnell parierte, während van der Poel nur mit erneutem überproportionalem Kraftaufwand eine schlechte Positionierung wettmachen konnte. Fünf Kilometer später war das Quintett vom Rest des Pelotons gerade wieder eingeholt worden, so dass diesmal auch Pedersens Kollege Jasper Stuyven mitgehen konnte, als van der Poel am Fuße des Paterbergs sogleich beschleunigte.
Vorübergehend wurde die vorwärts stürmende Gruppe um einige der eingeholten Ausreißer ergänzt, wobei praktisch jeder der genannten Fahrer noch mindestens einen Angriff versuchte, der den einen oder anderen Konkurrenten ins Hintertreffen geraten ließ. So waren vor der letzten Kwaremont-Passage noch fünf Fahrer übrig, als sich eine veritable Seifenoper anzubahnen schien: Van Aert, der sich am Mittwoch bei Dwars door Vlaanderen lächerlich gemacht hatte, behauptete plötzlich einen kleinen Vorsprung und durfte auf den lang ersehnten »Ronde«-Sieg hoffen. Aus der Schnulze vom flandrischen Heimsieg wurde freilich nichts, da Pogačar, als es etwas steiler wurde, seinerseits angriff. Danach fuhr er 18 Kilometer lang solo seinem achten Triumph bei einem Monument entgegen. Dahinter ließ sich der 29jährige Däne Pedersen von Stuyven den Sprint um Platz zwei anfahren, den er vor van der Poel gewann, der wiederum knapp van Aert distanzierte.
Mit diesem Spektakel konnte das anderthalb Stunden später endende 22. Frauenrennen schwerlich mithalten – zumal nach weniger als der Hälfte der 169 Kilometer langen Strecke von zwei Topfavoritinnen nur eine übrig war: Die Siegerin von 2024 und 2015, Elisa Longo Borghini (UAE Team ADQ), hatte wegen einer sturzbedingten Gehirnerschütterung aufgeben müssen. Danach schien im Peloton niemand mehr zu zweifeln, dass Lotte Kopecky (Team SD Worx – Protime) nach 2023 und 2022 erneut gewinnen würde. Während die anfängliche Fluchtgruppe allmählich zerfiel, waren Angriffsversuche aus dem Feld jedenfalls rar und schnell neutralisiert.
Dabei bewies das Team der 29jährigen belgischen Weltmeisterin besonderes Geschick, indem es Mischa Bredewold ein paar Kilometer mit einer Ausreißerin kooperieren ließ, um ihr selbst an der Kuppe des Oude Kruisberg einen kleinen Vorsprung zu sichern. So konnte die Niederländerin die an dem Anstieg folgende Attacke Liane Lipperts (Movistar Team) ohne weiteres Zutun ersticken. Neben der 27jährigen Deutschen hielten am Oude Kwaremont wiederum nur Katarzyna Niewiadoma (Canyon – Sram Zondacrypto) und Pauline Ferrand-Prévot (Team Visma – Lease a Bike) mit Kopecky mit. Die verließ sich auf den verbleibenden 18 Kilometern zu Recht auf ihren Sprint, den sie dann souverän vor der 33jährigen Französin und Lippert gewann.
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