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Aus: Ausgabe vom 17.04.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Krieg in Syrien

Die Waffen ruhen

Syrien: Einigung am umkämpften Tischrin-Damm und weitere Annäherung zwischen der kurdisch geführten Selbstverwaltung und Damaskus
Von Tim Krüger
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Mitglieder der »Volksverteidigungseinheiten« (YPG/YPJ) ziehen sich nach einem Abkommen mit Damaskus aus Aleppo zurück (4.4.2025)

Nach Monaten heftiger Auseinandersetzungen zwischen den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) und der türkischen Armee sowie mit ihr verbündeter islamistischer Milizen im Norden Syriens scheinen dort jetzt die Waffen zu schweigen. Am vergangenen Sonnabend wurde bekannt, dass unter der Vermittlung der US-geführten internationalen Anti-IS-Koalition ein Abkommen mit Damaskus über die Entmilitarisierung und zukünftige Verwaltung des heftig umkämpften Tischrin-Staudammes am Euphrat erreicht werden konnte. Die für die Energieversorgung Nordsyriens lebenswichtige Talsperre war seit dem Sturz des Assad-Regimes Anfang Dezember 2024 Schauplatz erbitterter Gefechte zwischen den Kräften der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) und der von der Türkei kontrollierten Islamistenkoalition »Syrische Nationalarmee« (SNA).

Mit dem vorläufigen Abkommen wird der Staudamm laut Berichten der kurdischen Nachrichtenagentur ANF als neutrale Zone deklariert und die Militärpräsenz schrittweise reduziert. Truppen des syrischen Verteidigungsministeriums – also faktisch Einheiten der in Damaskus regierenden Islamistenkoalition HTS – sollen die von der Türkei gesteuerten SNA-Verbände ersetzen und damit auf der Westseite des Euphrats eine Pufferzone errichten. Die Selbstverwaltung hat gemäß dem Abkommen ihre militärischen Einheiten an der Ostseite des Flusses durch Polizeieinheiten ihrer internen Sicherheitskräfte ersetzt. Vom Abkommen nicht betroffen ist die technische Verwaltung des strategisch wichtigen Wasserkraftwerkes, die vorerst in den Händen der Selbstverwaltung bleibt. Am Sonnabend inspizierte eine gemeinsame Delegation der syrischen Übergangsregierung, der internationalen Koalition sowie der SDF die schwer beschädigte Infrastruktur des Damms.

Für die Selbstverwaltung stellt das Abkommen einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zur Integration in das zukünftige syrische Staatswesen dar. Bereits am 10. März hatten der Generalkommandierende der SDF, Mazlum Abdî, und der syrische Präsident Ahmed Al-Scharaa in Damaskus ein weitreichendes Rahmenabkommen unterzeichnet. Am 1. April konnte dann der Generalrat der mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadtviertel Şêxmeqsûd und Eşrefiye in Aleppo eine umfassende Einigung mit der von Damaskus eingesetzten Stadtverwaltung erreichen. Dem Abkommen gemäß zogen sich die Verbände der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ, die diese Stadtteile seit 2014 gehalten hatten, aus der Stadt zurück und übergaben die Verantwortung für den Schutz der Viertel an die aus der Bevölkerung gebildeten internen Sicherheitskräfte. Während die Stadtviertel damit formell in die Verwaltung des syrischen Staates eingegliedert wurden, bleiben die bestehenden Selbstverwaltungsstrukturen gewahrt.

Es ist anzunehmen, dass die Annäherung zwischen der DAANES und der syrischen Übergangsregierung auch im Windschatten der in der Türkei laufenden Gespräche zwischen dem inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, und der türkischen Regierung möglich geworden ist. Ankara hatte in den vergangenen Monaten vehement darauf bestanden, dass Öcalans Aufruf zur Entwaffnung der PKK auch die kurdischen Verbände im Norden Syriens umfassen müsse. Ob die erreichten Abkommen ein erster Schritt zur Aufweichung der verhärteten Fronten sein können, wird sich zeigen, doch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bekräftigte zuletzt am 28. März in einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass »die Türkei die Aufnahme der sogenannten Demokratischen Kräfte Syriens in die Zentralverwaltung« unterstütze. Auch Mazlum Abdî bestätigte vergangenen Sonnabend gegenüber der in den USA ansässigen Nachrichtenseite Al-Monitor, dass die Türkei ihre Position gemäßigt hätte.

Während die türkische Armee trotz eines einseitig verkündeten Waffenstillstands der PKK ihre Angriffe auf Positionen der kurdischen Guerilla im Irak unvermindert fortsetzt, könnte eine fortlaufende Entspannung in Syrien maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Verhandlungen nehmen. Öcalan erklärte bereits in den gescheiterten Friedensverhandlungen von 2015, dass die Garantie der Errungenschaften im Norden Syriens für ihn eine »rote Linie« darstelle. Sollte die Türkei im Rahmen eines syrienweiten Waffenstillstandes von ihrer bisherigen Politik der militärischen Vernichtung der Selbstverwaltung abrücken, so wäre dies ein wichtiges Signal und ein entscheidendes Zugeständnis an die kurdische Seite.

Hintergrund: Verhandlungen

Bereits im Dezember 2024 hatten erste Verhandlungen zwischen der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien und der nach dem Sturz des Assad-Regimes gebildeten Übergangsregierung begonnen. Im Ergebnis der über Monate andauernden und durch die US-geführte internationale Koalition vermittelten Gespräche wurde am 10. März ein erstes vorläufiges Rahmenabkommen verabschiedet.

Das als Absichtserklärung gehaltene Dokument legt neben der Eingliederung der bis dato quasi autonomen Selbstverwaltung in den syrischen Staat und der Integration ihrer Verteidigungskräfte in die zu schaffende syrische Armee auch einen für das gesamte Staatsgebiet geltenden Waffenstillstand fest. Des weiteren garantiert das Abkommen allen ethnischen und religiösen Komponenten der syrischen Gesellschaft gleiche Rechte.

Zur weiteren Aushandlung und Umsetzung des Abkommens bis Ende 2025 sollen acht Ausschüsse gebildet und eine Interimsverfassung ausgearbeitet werden. Während im Bereich der Wirtschaft bereits eine erste Übereinkunft erreicht werden konnte und die Gespräche über das Bildungssystem weiter andauern, wurden die Verhandlungen in der vergangenen Woche durch die einseitige Berufung eines Übergangskabinetts durch Al-Scharaa überschattet.

Die Selbstverwaltung kritisierte die Zusammensetzung der Regierung als für die syrische Gesellschaft nicht repräsentativ und warnte vor einer Wiederholung der arabisch-nationalistischen Politik des gestürzten Baath-Regimes.

Trotz der anhaltenden Differenzen benannte die Selbstverwaltung am vergangenen Sonnabend eine aus hochrangigen Repräsentanten der Selbstverwaltung und unterschiedlicher Volksgruppen bestehende Verhandlungsdelegation.

(tk)

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