Die nationale Dimension
Von Kristian Stemmler
Die Teilnahme des russischen Botschafters Sergej Netschajew am »stillen Gedenken« an die Schlacht um die Seelower Höhen, bei der vor 80 Jahren mindestens 33.000 Soldaten der Roten Armee getötet worden waren, hat die »Zeitenwende«-Politiker in Berlin offensichtlich so aufgeschreckt, dass ohne jeden Zeitverzug gleich am nächsten Tag der Konter gefahren wurde: Am Donnerstag verlautete aus der Pressestelle des Bundestages, dass die diplomatischen Vertreter von Russland und Belarus nicht zur zentralen Gedenkfeier des Parlaments anlässlich des 80. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai eingeladen wurden. Angekündigt worden war die Veranstaltung bereits am Dienstag. Im Mittelpunkt soll dabei »die nationale Dimension des Erinnerns« stehen, erklärte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU).
Am Donnerstag hieß es nun, Klöckner habe zwar das Diplomatische Corps für den 8. Mai eingeladen, dem alle in Berlin akkreditierten Botschafter angehören. Man habe dabei aber wie üblich »die Einschätzung der Bundesregierung zur Einladung von Repräsentanten« berücksichtigt; dies habe dazu geführt, dass »die Botschafter der Russischen Föderation und von Belarus nicht eingeladen wurden«. Aus politischen Gründen unerwünscht sind demnach auch die diplomatischen Vertreter Venezuelas, Myanmars, Nicaraguas, Nordkoreas und des Iran, die ebenfalls nicht eingeladen wurden.
Sehr zufrieden mit der Entscheidung des Parlaments zeigte sich der ukrainische Botschafter Oleksij Makejew. Sie unterstreiche »die kontinuierlich konsequente Haltung des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung gegenüber Vertretern von Verbrecherregimen«, sagte er am Donnerstag gegenüber dpa. Am 8. Mai gehe es »um Vergangenheitsbewältigung zur Verhinderung neuer Kriege – nicht um Geschichtsverleugnung zu deren Rechtfertigung«. Am Vortag hatte Makejew sich noch über die Teilnahme Netschajews am Gedenken in Seelow echauffiert.
Die russische Botschaft nahm in einer Erklärung Bezug auf die bekanntgewordene, offenbar bereits seit Januar zirkulierende »Handreichung« des Auswärtigen Amtes zum Ausschluss von diplomatischen Vertretern aus Russland und Belarus von Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende. Darunter war unter anderem darauf verwiesen worden, dass die Organisatoren auch von ihrem Hausrecht Gebrauch machen könnten, sollten Vertreter der beiden Länder bei diesen Veranstaltungen erscheinen. Diese Empfehlung sei »äußerst bedauerlich«. Sie verwies auf 27 Millionen Kriegstote – die meisten davon Zivilisten – in der ehemaligen Sowjetunion. »Dieser Krieg gegen die Sowjetunion war ein Vernichtungskrieg, dem Völkermord gleich«, heißt es in einer Erklärung. Weiter wird betont: »Dabei brauchen wir keine besondere Einladung, um an öffentlich zugänglichen Orten das Andenken an die sowjetischen Befreier und die Opfer des Nazismus zu ehren und den Tag des Sieges feierlich zu begehen.«
Der russische Botschafter wird vermutlich am »Tag des Sieges«, der in Russland am 9. Mai begangen wird, wie in den Vorjahren an den beiden großen sowjetischen Ehrenmalen im Berliner Tiergarten und im Treptower Park der Kriegsopfer gedenken. Die ukrainische Botschaft hat ihre Linie geändert und meidet die sowjetischen Ehrenmale inzwischen grundsätzlich. Der damalige ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hatte am 8. Mai 2022 am Ehrenmal im Tiergarten noch einen Kranz niedergelegt.
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