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Aus: Ausgabe vom 19.04.2025, Seite 8 / Inland
Bildungskrise

»Ich habe das eins zu eins in den 90ern erlebt«

Geringere Nachfrage nach Kindergartenplätzen in Ostdeutschland. Kitabetreuungsschlüssel wird nicht verbessert. Ein Gespräch mit Sophie Koch
Interview: Max Ongsiek
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Der sichere Kindergartenplatz fehlt in der Sammlung des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt

Besonders in Ostdeutschland gehen die Anmeldezahlen für Kindertagesstätten zurück. Wie reagieren die Landesregierungen auf die demographischen Herausforderungen?

Das einzige Bundesland, das gezielt mit der Anpassung des Fachkraft-Kind-Schlüssels auf den Rückgang der Kinderzahlen reagiert hat, ist – noch unter der letzten Landesregierung – Thüringen gewesen. In allen anderen Ländern, so wie in Mecklenburg-Vorpommern, gab es höchstens minimale Anpassungen. Aber wenn der Betreuungsschlüssel bei den über Dreijährigen von eins zu 15 auf eins zu 14 heruntergeht, macht das den Kohl trotzdem nicht fett.

Warum wird der Fachkraft-Kind-Schlüssel nicht zugunsten der Erzieherinnen korrigiert?

Die Kitafinanzierung ist deutschlandweit kommunal unterschiedlich. Gerade im Osten haben wir viele Kommunen, die aufgrund sinkender Bevölkerung, marginaler Steuerkraft und Altschulden froh sind, wenn sie Kosten sparen können. In der Regel fließt vom Land pro Kind eine bestimmte Menge Geld an die Einrichtungen. Geht dann aber die Kinderzahl zurück, machen die Einrichtungen Verluste, so dass sie am Ende geschlossen werden müssen.

Fehlen Erzieherinnen in Ostdeutschland?

Zum ersten Mal gibt es ab dem nächsten Kitajahr einen Platzüberhang in Ostdeutschland. Dennoch herrscht Erzieherinnenmangel, der sich aber auf den Fachkraft-Kind-Schlüssel bezieht. Denn wir haben zu wenig Erzieherinnen auf zu viele Kinder. Eine Verbesserung kann nur durch angepasste Landeskitagesetze erfolgen. Und die braucht es nicht nur, um die Fachkräfte zu halten, sondern vor allem für bessere pädagogische Bildungsarbeit. Darüber hinaus ist der Krankenstand in der Kindertagesbetreuung so hoch wie in keinem anderen Arbeitsfeld. Im Durchschnitt sind Erzieherinnen in Deutschland 30 Tage krank. Die fallen im Osten sogar eine Woche länger aus, auch weil die Belastung durch die schlechten Personalschlüssel besonders hoch ist.

In Brandenburg an der Havel haben die Stadtverordneten Ende März einen drastischen Schritt beschlossen: Drei Kitas sollen geschlossen werden, in weiteren Einrichtungen werden Plätze gestrichen. Die Beigeordnete der Stadt für Jugend und Soziales wird von RBB mit den Worten zitiert, man habe den »Geburtenknick« nicht vorhergesehen. Wie glaubwürdig ist diese Aussage?

Seit ich beim Bundesverband der Volkssolidarität bin, habe ich angefangen, mich mit demographischer Statistik auseinanderzusetzen. Meines Erachtens war diese Entwicklung vorauszusehen. Im Sommer 2023 wollte ich von unseren knapp 400 Kitas wissen, ob der Geburtenrückgang in den Einrichtungen spürbar wird. Schon 50 Prozent der teilnehmenden Kitas gaben an, sie würden den Nachfragerückgang bemerken. Sei es durch verkürzte Wartelisten oder leer bleibende Plätze in den Einrichtungen. Ein halbes Jahr später sprach ich mit Kitaleitungen, die bei der Befragung noch keine Auswirkungen des Rückgangs angegeben hatten, diesen aber plötzlich deutlich feststellten. Anscheinend kam diese Welle wie ein Tsunami über alle hinweg, und ich verstehe nicht, wie man das vor allem politisch nicht absehen konnte.

Wie schnell könnte ein Rückbau der Kitainfrastruktur rückgängig gemacht werden?

Tatsächlich haben wir diesen krassen Prozess in Ostdeutschland schon einmal durchgemacht. Ich bin ein Ostberliner Kind und habe das eins zu eins in den 1990er erlebt. Und ich kenne einige, die in den Nullerjahren in Berlin zur Schule gegangen sind und zum Teil fünfmal die Schule wechseln mussten, weil ihre alte Penne immer wieder geschlossen wurde. Als dann aber der Zuzug ab 2010 kam, waren nicht genug Kita- und Schulplätze da. Grundsätzlich brauchen wir aber nicht zu glauben, dass die Erzieherinnen, die hier in den Kitas gekündigt werden, in den Westen gehen, um dort die Lücken zu füllen. Sie werden dem Arbeitsfeld einfach für immer verloren gehen.

Sophie Koch ist Referentin für Kinder-, Jugend- und Familienpolitik sowie Teamleitung Sozialpolitik in der Bundesgeschäftsstelle Volkssolidarität Bundesverband e. V.

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