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Aus: Ausgabe vom 26.04.2025, Seite 12 / Thema
Migration

»Team Europa«

Die Urlaubs- als Kontrollandschaft: Migration an der französisch-italienischen Grenze
Von Lisanne Eisenmann
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Die Forderung »Keine Grenze« harrt noch auf Erfüllung. Migranten in einem Tunnel, der zur italienisch-französischen Grenze führt

Unbewegt überglitzert die Côte d’Azur die Innengrenze zwischen Frankreich und Italien. Fast unsichtbar zieht sich diese Grenze zwischen Meer und Bergen dahin. Doch wer sie erst einmal zu erkennen gelernt hat, dem ist sie allgegenwärtig, der sieht die Maschinengewehre, die Zäune und Drähte überall und ringsum hört er den Funkverkehr der Polizei.

Als freiwillige Mitarbeiterin einer Flüchtlingshilfsorganisation bin ich all die Wege an der französisch-italienischen Küste, die ich schon aus dem Urlaub kannte, abgelaufen: von Nizza, Menton, Ventimiglia, Bordighera, Sanremo bis nach Imperia. Mit jedem Schritt verwandelte sich die Urlaubs- in eine Kontrollandschaft, der geflüchtete Menschen auszuweichen versuchen.

An der französisch-italienischen Grenze werden heute vor allem Menschen aus früheren Kolonien Frankreichs und Italiens abgewehrt. Sie kommen aus Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Eritrea, aus dem Sudan, aus Somalia und Somaliland, Äthiopien, von der Elfenbeinküste, aus Senegal, Guinea, Kamerun und vielen weiteren Ländern. In Scharen überqueren sie die französisch-italienische Grenze von der Küste bis in die Berge, um die Hürden des seit 2015 expandierenden Grenzregimes zu überwinden.

Racial Profiling

Seit Jahrhunderten kommt es in dieser pittoresken Landschaft »entre mer et montagne« zu Menschenwanderungen. Ein komplexes Netzwerk an Routen ist so entstanden. Sie ziehen sich von Italien nach Frankreich und verschieben sich im Lauf der Zeit. Heute sind es vor allem die Wege über die Grenzübertrittsorte Ventimiglia-Menton und Claviere-Montgenèvre, die genutzt werden. Seit 2015 sind insgesamt etwa 50 Menschen beim Versuch gestorben, die französisch-italienische Grenze zu übertreten. Wie bei allen anderen Grenzen gibt es auch hier eine Dunkelziffer.

Durch die Meeralpen zwischen Ventimiglia und Menton zieht sich ein durchlöcherter Grenzzaun, parallel zur Küste Mentons – dem »Juwel der Côte d’Azur« –, die von Yachten und Luxusvillen gesäumt wird. 14 Kilometer südlich döst das Königreich Monaco vor sich hin. Über den »Passo della Morte« (Todespass), einer Route, die von Grimaldi, einem Ortsteil von Ventimiglia, über die Meeralpen nach Menton und Nizza führt, versuchen seit 2015 Geflüchtete, dem europäischen Grenzregime auszuweichen. In Ventimiglia an der Nordwestküste Italiens wollen sie die Grenze nach Südfrankreich überqueren, dort entweder Asyl beantragen oder weiter nach Spanien oder in nördlicher gelegene Länder wie Großbritannien, die Niederlande und Deutschland flüchten.

Durch ein Netz von verzweigten schmalen Wegen, zwischen Zäunen, Sträuchern, Böschungen und verlassenen Ruinen, entlang an Orientierungspunkten wie Pfeilen und Kreuzen, die auf Bäume und Steine gesprayt sind, zieht sich der Passo della Morte. Er wird markiert von Dokumenten, Kleidung und Schuhen, die die Flüchtenden während ihrer Wanderung auf den Pfaden verloren haben. Es ist eine Route, die ins Unbekannte führt: Ohne klare Hinweise und Koordinaten verirren sich die Flüchtenden oft, stecken in den Bergen fest oder stürzen von den Klippen. Menschen, die auf Zugdächer gesprungen sind, erleiden tödliche Stromschläge, andere werden beim Überqueren der Bahngleise, auf der Autobahn und in Tunneln überfahren oder sie ertrinken in Flüssen.

Seitdem im Juni 2015 im Zuge der angeblichen Migrationskrise Europas das Schengener Abkommen an der französisch-italienischen Grenze ausgesetzt wurde, kommt es dort zu Kontrollen, wodurch den Geflüchteten der Grenzübertritt über den regulären Weg, über öffentliche Transportmittel wie die Bahn versperrt ist. Die einst versprochene Bewegungsfreiheit gilt nun nicht mehr für die Innengrenze im Herzen Europas, zumindest nicht für jene, die keine Staatsbürgerinnen oder Staatsbürger der EU sind.

Offizieller Grund für das neue Grenzregime ist die Anschlagsserie vom 13. November 2015 in Paris. Unter dem Vorwand der »Bedrohung der öffentlichen Ordnung« und des Schutzes der »inneren Sicherheit« kontrolliert die französische Grenzpolizei bis heute systematisch alle Züge, die in kurzen Zeitintervallen am Bahnhof »Menton Garavan« eintreffen, dem ersten Haltestopp auf französischer Seite. Zur Anwendung kommt die an sich rechtswidrige Praxis des Racial Profiling, bei der die Passagiere nach rassistischen Kategorien in Unschuldige und Verdächtige unterteilt werden – in jene, denen Bewegungsfreiheit gegönnt wird, und jene, die aufgrund ihres Aussehens aus dem Zug geholt werden. Schnell weiteten sich die 2015 eingeführten Grenzkontrollen auf ein systematisches Verfahren von Pushbacks und willkürlichen Inhaftierungen aus. Allein im Jahr 2023 wurden bis Mitte Oktober insgesamt 35.000 Menschen an der französisch-italienischen Grenze festgenommen.

Seit Jahren klagen Grenzüberwachungsorganisationen darüber, dass die französische Polizei systematische Pushbacks oder »refus d’entrée« vornehme, die im Widerspruch zu EU-Vorschriften und internationalen Übereinkommen stehen. In zahlreiche Berichten, die 2023 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, wird festgestellt, dass Geflüchtete von Frankreich nach Italien zurückgedrängt wurden, ohne dass eine individuelle Prüfung ihres Asylantrages erfolgt sei oder die Möglichkeit bestanden habe, in Frankreich einen Asylantrag zu stellen.

Dabei stellt das Urteil des französischen Staatsrates (Conseil d’État) vom 2. Februar 2024 einen Wendepunkt in der Geschichte der französisch-italienischen Grenze dar. Dieses hohe französische Verwaltungsgericht erkannte die vom EGMR angeprangerte Rechtswidrigkeit der »refus d’entrée« an und forderte die Anwendung des Chambéry-Abkommens (1997). In dieser Richtlinie wurde festgelegt, dass die Rückübernahme von Drittstaatsangehörigen durch die formelle Zustimmung der Behörden des ersten Einreiselandes, in diesem Fall Italien, erfolgen muss. So kann die französische Grenzpolizei nur dann Einzelpersonen nach Italien zurückführen, wenn eine Bestätigung von der italienischen Grenzpolizei vorliegt.

Menschenunwürdige Zustände

Etwa elf Kilometer trennen ­Ventimiglia von Menton, der ersten französischen Stadt nach der Grenze: Hier, zwischen Ventimiglia und Menton, organisiert die unabhängige Flüchtlingshilfsorganisation No Name Kitchen (NNK) humanitäre und Grenzüberwachungsaktionen. Stationiert auf der italienischen Seite der Grenze, ist ein Beobachtungsteam dreimal in der Woche im Einsatz. Es hält Wache vor der italienischen Polizeistation, um Grenzgewalt zu dokumentieren, vor allem rechtswidrige Pushbacks. Konkret beobachtet NNK das seit Februar 2024 geltende »Rückübergabeverfahren«, bei dem Geflüchtete, die von der französischen Polizei an der Grenze abgewiesen wurden, anschließend in der französischen Grenzpolizeibehörde inhaftiert und dann an die italienische Polizeibehörde übergeben werden. Im Herbst 2024 reichte NNK eine Beschwerde beim UN-Menschenrechtsausschuss über die anhaltende Grenzgewalt in Ventimiglia-Menton ein. Belegt werden die wiederholten Verstöße gegen die im UN-Zivilpakt (IPbR) verankerten Rechtsvorschriften. Die Beschwerde basiert auf im Zeitraum von April bis August 2024 gesammelten Berichten von Geflüchteten über Gewalt und Missbrauch an der Grenze.

Das NNK stellt »willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen von Menschen auf der Flucht in einer offensichtlich unverhältnismäßigen und diskriminierenden Weise« fest. Weitere Rechtsverletzungen der französischen Grenzpolizei, die der NNK-Bericht hervorhebt, bestehen darin, dass Geflüchtete unzureichend über ihre Rechte und die eingeleiteten Verfahren aufgeklärt wurden. Polizeidokumente sind voreingenommen abgefasst oder schlicht falsch. Die Haftbedingungen können nur als menschenunwürdig bezeichnet werden, wenn kein Zugang zu Wasser und ­Toiletten besteht, die Haftzellen überfüllt sind oder medizinische Hilfeleistungen verweigert werden.

Werden die Geflüchteten von der italienischen Grenzpolizei freigelassen, wartet ein bei Hitze kaum erträglicher, zweistündiger Fußmarsch zurück ins Stadtzentrum Ventimiglias auf sie. Seit 2015 wird die italienische Grenzstadt von den Medien als »Mini-Calais« stigmatisiert. Zwar gibt es eine Hilfsinfrastruktur in Ventimiglia, allerdings ist sie äußerst prekär: Seit der Coronapandemie 2020 besteht für zurückgedrängte männliche Geflüchtete keine Möglichkeit mehr, Zugang zu einem Platz in einer Notunterkunft zu erhalten. Am Stadtrand Ventimiglias am Ufer der Roya befinden sich seit 2016 unter einem Autobahnzubringer von den Geflüchteten bewohnte Zeltcamps. Sie sind eine Anlaufstelle für jene, die unmittelbar nach Italien abgeschoben wurden, und für diejenigen, die aufgrund des Mobilitätsregimes nach dem Dublin-System seit Jahren in Italien ausharren müssen. Während oberhalb auf der Autobahn ununterbrochen Menschen von der einen zur anderen Seite der Grenze brausen, stecken die Geflüchteten unterhalb der Autobahn in den Buchten der Roya fest.

Bürokratische Gewalt

Die Geflüchteten werden von einem europäischen Land in ein anderes abgedrängt, die Todesgefahr für sie bleibt bestehen. Die gegen sie gerichteten Schikanen der italienischen Kommunalverwaltung in Ventimiglia umfassen regelmäßige Räumungen der Zeltcamps, die Blockierung des Zugangs zum öffentlichen Wassernetz, die Kriminalisierung von humanitärer Geflüchtetenhilfe, die polizeilich-militärische Kontrolle und Überwachung von Geflüchteten sowie Maßnahmen der Aushöhlung des Asylsystems, wie das Bossi-Fini-Gesetz (2002), das die Aufenthaltserlaubnis strikt an einen Arbeits- und Mietvertrag bindet, oder die Abschaffung des humanitären Schutzstatus (2018), die dazu geführt hat, dass viele hilfsbedürftige Menschen keinen Zugang mehr zu einer Unterkunft oder zu psychologischer Unterstützung erhalten. Die Zeit, die Geflüchtete auf eine Unterkunft warten müssen, gleicht in vielen Fällen der Bearbeitungsdauer des Asylantrags, die bis zu drei Jahre reichen kann. Die anstehende Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) könnte sogar eine Bearbeitungsdauer von sechs Jahren einleiten – und niemand will so lange in Italien ausharren.

»Wer den Hungernden kein Brot gibt / Der will die Gewalttat«, heißt es in einem Gedicht von Bertolt Brecht. Die Gewalttat ist hier die institutionelle Trägheit bei der Anerkennung eines Platzes in Aufnahmezentren und sie ist die Unmöglichkeit, Zugang zu Aufenthaltsrechten zu erhalten. Das restriktive Grenz- und Migrationssystem stellt Geflüchtete vor unüberwindliche bürokratische Hürden und zwingt ihnen einen irregulären Aufenthaltsstatus auf. Während die faschistische italienische Regierung absolute Abschottung nach außen fordert, gliedert sie gleichzeitig Geflüchtete in ein ausbeuterisches Arbeitssystem im Landesinneren ein. Als Saison- und Wanderarbeiter müssen sie in der Landwirtschaft, in Discountern, in Fabriken, in Bordellen, im Gesundheitssystem oder in der Logistik unter miserablen Bedingungen arbeiten.

Mit dem Versprechen, »das goldene Ticket« – eine Aufenthaltserlaubnis – zu erhalten, schufften sie unterbezahlt mit unzureichendem Arbeitsschutz. »Sie haben mir vier Euro pro Stunde angeboten«, sagte Lamin (Name geändert). Er hat in Turin in einem landwirtschaftlichen Betrieb Trauben geerntet; jedes Jahr werden Migrantinnen und Migranten zur Oliven- und Weinernte im Piemont angeworben. Lamin kommt aus Gambia und lebt seit neun Jahren in Italien. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist abgelaufen und er kann sie nicht mehr erneuern. In Frankreich will er »bei null anfangen«. »Ich will irgendwo in Europa leben, wo ich Dokumente erhalte«, sagte er. An der Grenze Ventimiglia-Menton wurde er bereits dreimal zurückgewiesen, weswegen er nun in einem Zeltcamp in Ventimiglia ausharrt. Ein ähnliches Schicksal hat auch Yero (Name geändert). Wie Lamin kommt er aus Gambia. Er lebt seit zehn Jahren, seit er 21 Jahre alt ist, in Italien. Ich fragte ihn, ob er Italien mag. »Es geht nicht um das Land, sondern um die Papiere«, antwortete er. Auch Yeros Aufenthaltsgenehmigung ist abgelaufen. Da er sie nicht erneuern kann, will er nach Frankreich. Obwohl er Familie in Frankreich hat, wurde er zweimal an der Grenze abgelehnt.

Laut Kommunalverwaltung fehlt es für den Bau eines Aufnahmezentrums in Ventimiglia an Geld. Aber für ein Abschiebezentrum, italienisch Centro di Permanenza per il Rimpatrio (CPR), reicht das Geld. Als der italienische Innenminister Matteo Piantedosi am 2. Oktober 2023 Ventimiglia besuchte, kündigte er den geplanten Bau eines neuen CPR in der Region Legurien und zusätzliche Polizeipräsenz an. Bereits jetzt ist die Grenzmilitarisierung auf Schritt und Tritt in der Stadtlandschaft Ventimiglias spürbar. Vor dem Bahnhof und an den Bahngleisen sind Polizei- oder Militäreinheiten allgegenwärtig. Oft kontrollieren Polizei und Militär rassifizierte Menschen auf Tickets und Ausweise. Es geht um die Züge, die in Richtung Frankreich fahren. In vielen Fällen kommt es bereits vorab zu Polizeikontrollen am Bahnhof in Ventimiglia, um der französischen Polizei in Menton die Arbeit zu erleichtern. Auch werden die täglich stattfindenden Essensausgaben, die von humanitären NGOs für Geflüchtete organisiert werden, von Polizei, Militär- und manchmal sogar von der DIGOS – einer auf Terrorbekämpfung spezialisierten Einheit der italienischen Polizei – überwacht.

Der italienischen Regierung unter Giorgia Meloni kann es nicht an Geld für die Unterstützung von Geflüchteten mangeln, wenn gleichzeitig milliardenschwere Pläne für Abschiebelager in Italien und außerhalb beschlossen werden. Erst im Oktober 2024 eröffnete Italien in Albanien ein Aufnahme- und Abschiebelager mit 3.000 Plätzen für Menschen, die auf internationalen Gewässern von der italienischen Küstenwache abgefangen werden. In Albanien sollen sie Asyl für Italien beantragen und nach ihrer Ablehnung umgehend in ihr Herkunftsland abgeschoben werden.

Politik des Sterbenlassens

In Verlautbarungen der französischen und italienischen Regierung heißt es, dass mittels Grenzkontrollen und Inhaftierungen die irreguläre Migration sowie Sicherheitsdefizite bekämpft und aufgehoben werden sollen. Doch eine verhärtete Grenzpolitik ist gerade ein Pullfaktor für irreguläre Migration. Sicherheitsbedenken sollen ein gewalttätiges Grenzsystem legitimieren, das eine »Left-to-die-policy« praktiziert, eine Politik des Sterbenlassens.

Im Zuge der Abschottung Europas kann die Grenze nicht mehr als eine einfache territoriale Linie dargestellt, sondern muss als System verstanden werden, das verschiedene Rechtsrahmen, Verfahren, Institutionen, Infrastrukturen und Akteure umfasst. Dabei wirkt der Rechts- und Regelrahmen des europäischen Grenzsystems von den Innen- und Außengrenzen der EU über das Mittelmeer bis zur anderen Seite der Küste in den Maghreb-Ländern und noch weiter südwärts. Seit rund zwei Jahrzehnten unterstützt die EU Abschiebungen von Geflüchteten in die Wüste an den Grenzen der Maghreb-Staaten sowie das Abfangen von Menschen auf dem Mittelmeer durch die libysche Küstenwache. Im Frühjahr 2024 wurden die Deals mit weiteren Maghreb-Ländern, etwa mit Mauretanien, ausgeweitet, um Geflüchtete von der Überfahrt auf die kanarischen Inseln abzuhalten, sowie mit Ägypten, um Geflüchtete in den Sudan zu deportieren. Um Geflüchtete abzuwehren, unterstützt die EU als »partner in crime« die autoritären Strukturen dieser Staaten.

Mit der letzten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, die am 10. April 2024 entschieden wurde und voraussichtlich 2026 zur Anwendung kommen wird, wird auch der bislang noch bestehende geringe Spielraum durch eine übergreifende Abriegelung der EU zunichte gemacht. Die Reform sieht eine Verschärfung der De-facto-Inhaftierung der in Europa ankommenden Menschen, unter anderem von Kindern ab sechs Jahren, in »Closed-Controlled-Access-Centres« vor. Es handelt sich um Wartezentren an den europäischen Außengrenzen, in denen die EU-Agenturen mittels Schnellverfahren von bis zu 18 Wochen vorprüfen, ob Personen das Recht auf ein vollwertiges Asylverfahren haben. Dubiose Kategorien wie »sicherer Herkunftsstaat« und »sicherer Drittstaat« begünstigen, dass Asylanträge ohne individuelle Prüfung vorab als unzulässig abgelehnt werden. Mit der Fiktion der Nichteinreise – Menschen, die sich bereits auf europäischen Boden befinden, gelten bis zum Abschluss bestimmter Verfahren als juristisch nicht eingereist – wird der rechtliche Rahmen für eine weitere Abschottung der EU geliefert. Streng betrachtet, wird es ab 2026 kein Asylsystem mehr geben.

Wie wird es für Geflüchtete dann noch möglich sein, bis nach Deutschland zu kommen? Über den Bergen der Region Alpes-Maritimes und Hautes-Alpes kreisen Drohnen, Polizeipatrouillen ziehen ihre Kreise, ja schon am andern Ufer des Mittelmeers wird die Weiterreise unterbunden.

Dabei zeigt sich die Auslagerung der europäischen Abschottungspolitik bereits in der geringen Anzahl der an der französisch-italienischen Grenze ankommenden Geflüchteten im Sommer 2024 – während im Juni/Juli 2023 der Höchstwert bei 250 Menschen lag, die in der Notunterkunft »Rifugio Massi« (Region Piemont) beherbergt wurden, kamen im Juli 2024 durchschnittlich zehn bis zwanzig Menschen pro Tag im Rifugio Massi an. Diese Veränderung ist vor allem auf die EU-finanzierte Abwehr von Geflüchteten in Tunesien zurückzuführen.

Am 6. Juli 2023 schloss EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusammen mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und dem ehemaligen niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, heute NATO-Generalsekretär, als Teil von »Team Europe« mit Tunesien einen 785-Millionen-Euro-Deal zur Abwehr von Geflüchteten aus Nordafrika ab. Währenddessen wurden 1.000 Geflüchtete von tunesischen Sicherheitskräften in der Wüste an der tunesisch-libyschen Grenze ausgesetzt. 27 Menschen starben. Eine aktuelle Untersuchung – »State trafficking: Expulsion and sale of migrants from Tunisia to Libya« –, unterstützt von Border Forensics, der Association for Juridical Studies on Immigration und On Borders, belegt, dass im Zeitraum Juni 2023 bis November 2024 die EU-finanzierte tunesische Nationalgarde Migrantinnen und Migranten, die von ihrer Flucht nach Europa abgehalten wurden, sogar an libysche Milizen verkauft hat. Menschenhandel mit europäischer Förderung.

Die aktuellen Entwicklungen – die im Februar von der Bundesregierung um weitere sechs Monate verlängerten Grenzkontrollen, der im Januar beschlossene Fünfpunkteplan und das im März geschnürte enorme Aufrüstungspaket – zeigen Deutschland als einen der zentralen Akteure eines militarisierten Grenzsystems Europas. Es beginnt schon außerhalb der EU mit Drittländerarrangements und setzt sich bis ins Landesinnere mit Inhaftierungen, Abschiebungen und mit der Prekarisierung des Sozial- und Asylsystems fort. Deutschland im besonderen, aber auch die nördlichen EU-Staaten ganz allgemein betreiben eine verbrecherische Politik der Verelendung und des Sterbenlassens von Menschen.

Lisanne Eisenmann studiert an der Humboldt-Universität Kulturwissenschaften und Asien-­Afrikastudien.

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