Erinnerung an Namenlose
Von Yaro AllisatRund 77 Personen haben sich am Dienstag morgen zwischen Libyen und Malta in Seenot befunden. Zwei Stunden später war noch immer keine Hilfe angekommen. Nur die sogenannte libysche Küstenwache war vor Ort und drohte, die Schiffbrüchigen zurückzuschleppen. Eine Frau hatte Wehen und war dabei, ohnmächtig zu werden. Am Abend wurde ein weiteres Boot mit 43 Personen in Not südlich von Malta entdeckt. Auch hier war unklar, ob die maltesischen Behörden eine Rettungsoperation einleiten.
Solche Berichte veröffentlicht die Initiative »Alarm Phone« fast täglich. Allein zwischen Neujahr und dem vergangenen Wochenende hat das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 12.137 Menschen dokumentiert, die über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind. Acht Menschen starben oder verschwanden. 2.824 Tote und Vermisste allein auf See wurden dort 2024 gezählt, 199.200 Menschen erreichten Europa.
Diesen Donnerstag wird weltweit an die Fluchtopfer erinnert. In rund 60 Städten finden sogenannte Commemoractions (Gedenkfeiern) statt. »Wir sehen uns verpflichtet, an jene zu erinnern, die in ihrem Streben nach Bewegungsfreiheit gestorben oder verschwunden sind, und auch unsere Forderungen nach Gerechtigkeit auszudrücken«, heißt es im Aufruf von »Alarm Phone«. Schon seit mehr als zehn Jahren findet das Gedenken immer am 6. Februar statt.
Die Namen derjenigen, die auf See verschwinden oder nicht gerettet werden, sind oft unbekannt. Sie fahren in einem Boot hinaus und verschwinden in den Tiefen des Meeres. Oder ihre Leichname werden an italienischen, libyschen, marokkanischen und anderen Stränden angespült.
Laut Menschenrechtsorganisationen nutzt die EU-Grenzschutzagentur Frontex, deren Budget jährlich steigt und 2024 bei 922 Millionen Euro lag, ihre Mittel nicht, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. »Wenn Frontex-Flugzeuge und -Drohnen Boote mit Asylsuchenden, Geflüchteten und Migranten im Mittelmeer entdecken, alarmiert die Agentur die Rettungsleitstellen in den EU-Mitgliedstaaten sowie in Libyen und Tunesien«, heißt es in einem Statement von Human Rights Watch aus dem vergangenen Jahr. Nichtstaatliche Rettungsboote würden jedoch nicht informiert. »Dies führt dazu, dass Menschen von libyschen und tunesischen Streitkräften abgefangen und gewaltsam in diese Länder zurückgeführt werden, wo sie schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.« Dafür unterstützt die EU Milizen wie die angebliche »Küstenwache« Libyens.
Zudem hat der Staatenbund Abkommen mit Drittstaaten geschlossen, beispielsweise der Türkei und Marokko. Das Prinzip: Die EU gibt Geld, und sie »nehmen die Menschen zurück« oder hindern sie am Grenzübertritt. Mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, nach der ab 2026 ein ordentliches Asylverfahren nur erhalten soll, wer nicht durch einen sogenannten sicheren Drittstaat gekommen ist, führt die EU das Konzept Asyl letztlich ad absurdum. Zugleich weitet sie nämlich das entsprechende Konzept immer weiter aus, so dass Drittstaaten ganz unabhängig von der tatsächlichen Situation als »sicher« gelten.
Eine Externalisierung von Asylverfahren hatte auch der damalige britische Premier Rishi Sunak mit seinem Ruanda-Deal versucht. Er wurde jedoch vom Obersten Gericht Großbritanniens gestoppt. Auch die »postfaschistische« italienische Premierministerin Giorgia Meloni hält an ihrem Albanien-Modell fest – obwohl Gerichte bereits zweimal eine Rückführung aus den Lagern nach Italien anordneten. Unterdessen schwadroniert CDU-Chef Friedrich Merz über Grenzschließungen und eine »Verschärfung« des Rechts auf Asyl in Deutschland – de facto seine Abschaffung.
Welche Konsequenzen diese Politik für Menschen hat, lässt sich anhand der reinen Zahlen kaum begreifen. Erst Einzelfälle lassen es erahnen. Ein Beispiel: Ende Dezember hinderte die bulgarische Grenzpolizei Aktivisten der Initiative »No Name Kitchen« daran, drei minderjährigen Ägyptern im Wald nahe der bulgarisch-türkischen Grenze zu Hilfe zu kommen. Stunden später wurden ihre erfrorenen Körper gefunden.
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