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Aus: Ausgabe vom 23.04.2025, Seite 2 / Inland
Staat und Kriminalität

»Sie beeinflusst damit politische Debatten«

Polizeiliche Kriminalstatistik ist von politischen Vorgaben und Interessenlagen geprägt. Ein Gespräch mit Anthony Obst
Interview: Henning von Stoltzenberg
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Was die Polizeibehörden notieren, landet in der Kriminalstatistik: Beamtin im Einsatz gegen eine Palästina-Demo in Berlin-Neukölln (18.10.2023)

Sie warnen in einem offenen Brief gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor einer Politisierung der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik, kurz PKS. Diese werde jedes Jahr dafür genutzt, falsche Narrative über steigende Kriminalität und vermeintlich »kriminelle Migrant*innen« zu verbreiten. Sie stellen das durch das Bundeskriminalamt und viele Medien gezeichnete statistische Bild in Frage und betonen, dass die PKS zur Polarisierung der Gesellschaft und Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beiträgt. Was meinen Sie damit konkret?

Die PKS ist ein Instrument, durch das die Polizei politische Debatten beeinflusst. Politikerinnen, Politiker und Medien greifen diese Daten Jahr für Jahr auf, um Ängste in der Gesellschaft zu schüren – und seit vielen Jahren auch verstärkt, um gezielt Stimmung gegen migrantisierte Personen zu machen. Die PKS bedient somit rassistische Ressentiments, die um das Stereotyp des »kriminellen Ausländers« kreisen.

Sie konstatieren, die Art der Datenerhebung sei oft von politischen Vorgaben und Interessenlagen geprägt. So führe beispielsweise ein politischer Fokus auf »Messerkriminalität« zu mehr Bemühungen, solche Straftaten zu erfassen. Sie bezeichnen im offenen Brief die Narrative, die Migration mit zunehmender Gewalt- und »Messerkriminalität« verknüpfen, als irreführend. Welche Gründe haben Sie dafür?

Begriffe wie »Messerkriminalität« oder auch »Clankriminalität« dienen der Ethnisierung von Gewalt. Es handelt sich dabei nicht um rechtlich definierte Delikte, sondern um von der Polizei institutionalisierte Kategorien, durch die bestimmte Formen von Gewalt bestimmten ethnischen Gruppen zugeschrieben werden. Politiker*innen und Medien von rechts außen geben den Ton an, indem sie diese Kategorien als besondere Formen vermeintlicher »Ausländerkriminalität« darstellen. Die Polizei befeuert solche Darstellungen mit ihrer Datenerhebung sowie mit ihren Fahndungsmethoden.

Sie bezeichnen die jährliche Berichterstattung als alarmistisch. Steigt die Kriminalität denn nicht auf breiter Front an?

Nein. Die polizeilichen Daten selbst verzeichnen einen Rückgang registrierter Verdachtsfälle. Auch historisch betrachtet sind die Zahlen rückläufig: Die Polizei erfasst heute etwa 13 Prozent weniger Verdachtsfälle als im Jahr 1993.

Sie werfen der Berichterstattung und der politischen Debatte rund um die PKS vor, die staatliche Gewalt, die marginalisierte Menschen erfahren, zu ignorieren. Woran machen Sie das fest?

Die PKS ist in erster Linie ein Tätigkeitsbericht der Polizei. Was nicht in diesem Bericht vorkommt, ist die weitverbreitete polizeiliche Praxis des Racial Profiling, wodurch jährlich Hunderttausende von Rassismus betroffene Menschen ins Fahndungsnetz der Polizei geraten. Zudem bleibt Polizeigewalt systematisch untererfasst: Jährlich werden zwischen 2.000 und 3.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet, laut Studien erstatten jedoch über 90 Prozent der Betroffenen keine Anzeige. Statt über diese realen Ungerechtigkeiten zu sprechen, dominiert eine sicherheitspolitische Erzählung, die Kriminalität mit Migration verknüpft.

Wie müsste eine Kriminalstatistik nach Ihren Vorstellungen erarbeitet und präsentiert werden?

Anstatt polizeilicher Datenerhebung zu vertrauen, sollten unabhängige Dokumentationsstellen gestärkt werden. Grundsätzlich bedarf es allerdings auch eines gesellschaftlichen Umdenkens, was Sicherheitsfragen angeht: Für viele Menschen schafft die Polizei in erster Linie Unsicherheit – insbesondere für Menschen, die von Armut, Rassismus und deren Schnittstelle betroffen sind. Echte Sicherheit lässt sich nur sozial herstellen: etwa durch den Ausbau sozialer Infrastruktur und den Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe. Die Sicherheitsfrage ist in erster Linie eine Verteilungsfrage.

Anthony Obst ist Sprecher des Projekts »Justice Collective« in Berlin

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