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Aus: Ausgabe vom 23.04.2025, Seite 5 / Inland
Gesundheitspolitik

Pfusch am Patienten

Krankenkassen: Hohes Niveau und hohe Dunkelziffer bei medizinischen Behandlungsfehlern. Meldepflicht für Ärzte gefordert. Haftpflichtversicherungen verschleppen Schadensersatzansprüche
Von Oliver Rast
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Fehlerquelle Joballtag: Aus dem Rettungswagen in die Notaufnahme des Krankenhauses (Wesel, 4.4.2025)

Ein Aufenthalt in der Ambulanz, ein Aufenthalt in der Klinik. Patienten versprechen sich Hilfe, unkompliziert. Bisweilen endet ein Eingriff aber mit Komplikationen. Einige sind leicht reversibel, muten comedyesk an, etwa wenn der falsche Knöchel bandagiert, der falsche Arm eingegipst wird. Andere Behandlungen wiegen schwer, können zum Alptraum werden. Statt des Innen- fehlt der Außenmeniskus im rechten Knie nach einer OP, statt eines schmerzhaften Vormahlzahns zieht der Dentist den schmerzfreien Mahlzahn. Oder, schlimmer: Chirurgische Instrumente – beispielsweise eine Pinzette, ein Skalpell – verbleiben nach dem Vernähen der Gewebeschichten der Bauchdecke in der Bauchhöhle. Ein drastischer Fall, gewissermaßen ein ärztlicher Notfall. Behandlungsfehler passieren zehntausendfach in Deutschland. Jährlich.

Allein bei den elf Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) hätten sich im vergangenen Jahr »16.395 Versicherte mit der Bitte um Unterstützung beim Verdacht eines Behandlungs- bzw. Pflegefehlers gemeldet«, sagte Peter Willenborg am Dienstag gegenüber jW. Am häufigsten wurden Verdachtsfälle aus der Chirurgie, der Gynäkologie und Geburtshilfe, der inneren Medizin und der Zahnmedizin erfasst, so der Kommunikationsreferent beim AOK-Bundesvorstand weiter.

Bereits am Montag berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) auf Basis einer Statistik der größten deutschen gesetzlichen Krankenversicherung, der Techniker Krankenkasse (TK), über Ärzteschluderei. Demnach hatten sich 2024 exakt 6.431 Versicherte an die TK gewandt, um einen mutmaßlich fehlerhaften Medizineingriff zu melden. Der zweithöchste Wert in den zurückliegenden zehn Jahren, Verdachtsfälle auf Rekordniveau also.

Der Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK) kann hingegen keine genauen Zahlen liefern, bemerkte dessen Kommunikationsreferentin Leah Palgan am Dienstag auf jW-Anfrage. Die einzelnen BKKs würden indes das Quantum an Fällen vermuteter Behandlungsfehler in ihren Transparenzberichten dokumentieren.

Ein Knackpunkt: Patienten müssen proaktiv etwaige Folgeschäden nach ärztlichen Behandlungen bei ihrer Krankenkasse melden, eine zentrale Meldestelle gibt es nicht. Ferner sind Leistungserbringende – Ärzte in Praxen oder Kliniken – wenig gewillt, medizinische Fehlleistungen bekanntzumachen. TK-Chef Jens Baas beklagte gegenüber dem RND eine »erhebliche Dunkelziffer« von unentdeckten Fällen. »Viele Patientinnen und Patienten trauen sich nicht, ihre Rechte einzufordern.« Weitere wiederum wüssten nicht, dass sie ihre Krankenversicherung im Verdachtsfall kontaktieren müssten. Baas’ Forderung: Eine Meldepflicht für Behandlungsfehler, für alle medizinischen Einrichtungen einheitlich. »Wir brauchen eine offene Fehlerkultur, um die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern«, mahnte er.

Ähnlich argumentiert Willenborg von der AOK. Leistungserbringende müssten offen, »das heißt ohne Nachfrage der Patientinnen und Patienten, über Fehler informieren, die ihnen unterlaufen sind.« Hierfür sei eine gesetzliche Anpassung erforderlich, da nach geltender Regelung eine Informationspflicht nur auf Ansuchen Versicherter sowie zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren bestehe. Ein medizinischer Laie habe aber normalerweise keine ausreichenden Anhaltspunkte bzw. keine ausreichende Kenntnis, »um nach einem möglichen Verstoß gegen den fachärztlichen Standard zu fragen«, sagte Willenborg. Die Beauftragte für Patientensicherheit bei der DAK Gesundheit, Viola Sinirlioglu, ergänzte gegenüber jW: Von den Krankenkassen solle auch ein flächendeckendes Meldesystem für Patienten angeboten werden. »Wir wollen nicht mit dem Finger auf die Bereiche zeigen, in denen es zu Fehlern kommt.« Es gehe um eine »angstfreie Sicherheitskultur« mittels Schulungen und Weiterbildungen.

Nur, wie Schadensersatzansprüche bei Haftpflichtversicherungen durchsetzen? Denn die würden dem TK-Chef Baas zufolge häufig auf Zeit setzen und darauf hoffen, dass Opfer von Behandlungsfehlern irgendwann aufgäben, auf ihr Recht verzichteten. Die Folgen des Pfuschs am Patienten bleiben dann: folgenlos.

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