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Aus: Ausgabe vom 23.04.2025, Seite 6 / Ausland
Tunesien

Schauprozess gegen Opposition

Tunesien: Im Mammutverfahren gegen angebliche Verschwörer wurden hohe Haftstrafen gefällt. Auch Verteidiger verhaftet
Von Bernard Schmid
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Bei dem jüngsten Schauprozess blieb die Öffentlichkeit weitgehend ausgesperrt (Tunis, 5.3.2025)

Es war am Sonnabend im Morgengrauen, als die Urteile im Mammutprozess gegen Tunesiens Opposition bekanntwurden: zwischen 13 und 66 Jahren Haft für die Angeklagten. Lediglich der Autovermieter Hattab Slama, dem nur vorgeworfen werden konnte, dass eines seiner Fahrzeuge in der Nähe der Wohnadresse eines der anderen Beschuldigten geortet worden war, kam mit vier Jahren Gefängnis davon. Verteidigungsplädoyers waren keine gehört worden. Nicht einmal die Anklageschrift wurde vollständig zu Ende verlesen.

Um die vierzig Angeklagte zählte das Verfahren im Fall des sogenannten Komplotts gegen die Staatssicherheit, das über zwei Jahre lang vorbereitet worden war. Es traf quasi alle Spektren der Opposition in Tunesien, wo der im Oktober 2019 erstmals gewählte Staatspräsident Kaïs Saïed am 25. Juli 2021 das Parlament in den Urlaub geschickt und die geltende Verfassung suspendiert hatte. Seitdem hat er mit autoritären Mitteln alle Macht in seinen Händen konzentriert – auch die zur Entlassung, Beförderung oder Versetzung von Richtern.

Bei dem Prozess gegen die Opposition standen Vertreter aus unterschiedlichen Lagern vor Gericht, die, abgesehen von ihrer Kritik an Saïed, herzlich wenig miteinander gemein haben. Zu ihnen zählen unter anderem der aus der sozialdemokratischen Partei Ettakatol, welche von 2011 bis 2014 mitregiert hatte und die er 2015 verließ, hervorgegangene »Demokratieaktivist« Khayem Turki, zwei Führungsmitglieder der von 2011 bis 2019 an vorderster Stelle in Koalitionen regierenden islamistischen Formation Nahda – deren Wählerschaft halbierte sich im Laufe dieser Periode desillusioniert – in Gestalt von Abdelhamid Dschelassi und Exjustizminister Noureddine Bhiri, der zur Linken zählende Verfassungsjurist Jaouhar Ben Mbarek oder der mit der früheren Ben-Ali-Diktatur verbandelte Geschäftsmann Kamel Eltaïef. Vorgeworfen wird ihnen unter anderem, an konspirativen Treffen teilgenommen oder Kontakte zu ausländischen, darunter auch westlichen Diplomaten unterhalten zu haben.

Mehrfach musste die Eröffnung des Prozesses verschoben werden, weil die Angeklagten nicht akzeptierten, dass in ihrer Abwesenheit gegen sie verhandelt wurde – lediglich eine Zuschaltung per Video aus der Zelle, wo viele von ihnen bereits in Untersuchungshaft einsaßen, sollte ihnen gewährt werden. Auch die Presse, mit Ausnahme ausgewählter Organe, und viele Prozessbeobachter blieben zunächst ausgesperrt. Am 5. März platzte deswegen und aufgrund von Protesten Angehöriger im Gerichtssaal der Prozessauftakt. Er wurde auf den 11. April verschoben. Mittlerweile befanden sich mehrere Angeklagte im Hungerstreik, um einen öffentlichen Gerichtstermin und eine Verhandlung in ihrer Anwesenheit durchzusetzen. Westliche Botschaften wie die Frankreichs, Deutschlands, Kanadas und die EU-Vertretung in Tunis konnten dieses Mal Beobachter entsenden.

Doch die Prozesseröffnung wurde erneut vertagt, um eine weitere Woche. Dieses Mal – während in christlich geprägten Ländern Karfreitag war – blieben die westlichen Botschaften wieder ausgeschlossen, ebenso wie die gesamte tunesische Presse, mit Ausnahme einer einzigen regimenahen Lokalzeitung. Lediglich durch die zahlreich mobilisierten Anwälte, rund 200 von ihnen waren im Saal anwesend, war eine unabhängige Beobachtung gewährt. Am Ende entschloss sich das Gericht, ohne Diskussion einfach seine Beschlüsse in der Nacht zu verkünden.

Am Montag wurde bekannt, dass auch einer der Verteidiger, der frühere Verwaltungsrichter Ahmed Souab, festgenommen wurde. Am Morgen hatte eine von der Justizabteilung zur »Terrorismusbekämpfung« geleitete polizeiliche Sondereinheit eine brutal durchgeführte Hausdurchsuchung bei ihm vorgenommen. Souab wurde in die Kaserne von Bouchoucha geführt und von dort in eine Haftanstalt überstellt. Weder sein ebenfalls engagierter Anwaltskollege Ayachi Hammami noch andere Rechtsanwälte konnten mit ihrem Berufskollegen und Mandaten in Kontakt treten. Angeblich soll er den Vorsitzenden Richter bedroht haben.

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