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Aus: Ausgabe vom 11.03.2025, Seite 6 / Ausland
Nordafrika

Justizfarce in Tunesien

Rechtsstaatlichkeit am Boden – neuer Massenprozess gegen Regierungskritiker
Von Werner Ruf
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Protestierende halten beim Prozessauftakt Bilder von angeklagten Oppositionellen hoch (Tunis, 4.3.2025)

Die autokratische Entwicklung unter Präsident Kaïs Saïed geht weiter: Am 4. März begann in Tunesien ein Prozess wegen »Verschwörung gegen die Staatssicherheit«. Angeklagt sind 52 Personen, darunter Politiker unterschiedlichster Parteien, Rechtsanwälte, Journalisten und Unternehmer. Unter Verletzung der Strafprozessordnung begann das Verfahren in Abwesenheit der Angeklagten, sie sollten aus ihren Zellen per Video zugeschaltet werden. Das lehnten diese ab, denn, so einer von ihnen: »Ich will dem Richter ins Gesicht schauen.« Im Saal und vor dem Gerichtsgebäude drängten sich Rechtsanwälte, Journalisten und Angehörige der Angeklagten, Sprechchöre forderten »Freiheit, Freiheit, Schluss mit einer Justiz auf Befehl!« Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen in Tunis verlangte ein Ende der Verfolgung der politischen Opposition, Amnesty International und Human Rights Watch entsandten Beobachter. Schon im Februar waren regierungskritische Politiker zu langen Haftstrafen verurteilt worden, darunter der 83jährige Oppositionsführer Rached Ghannouchi von der islamistischen Partei Ennahda.

Die Angeklagten sind zum Teil schon über zwei Jahre in Haft. Ihnen drohen lange Gefängnisstrafen, teilweise die Todesstrafe, die aber seit 1991 nicht mehr vollstreckt wurde. Die reale Macht im Land ruht inzwischen allein in den Händen von Saïed, der 2019 im zweiten Wahlgang mit der überwältigenden Mehrheit von knapp 73 Prozent der Stimmen ohne Unterstützung einer Partei und ohne Inanspruchnahme der ihm zustehenden öffentlichen Wahlkampffinanzierung zum Staatspräsidenten gewählt worden war. Saïed, der an der Universität Tunis Staatsrecht lehrte, löste am 25. Juli 2021 das Parlament auf, setzte die Regierung ab, übernahm den Vorsitz der Staatsanwaltschaft und regiert seither per Dekret. Ennahda sprach von einem Staatsstreich.

Entscheidend für die weitere Entwicklung war das Dekret Nr. 35 des Staatspräsidenten vom 1. Juni 2022. Es gibt ihm das Recht, jeden Richter abzuberufen, dessen Handeln die »öffentliche Sicherheit verletzt«, »dem übergeordneten Interesse des Landes« widerspricht oder »den Ruf der juristischen Gewalt kompromittiert«. Umgehend wurden 57 Richter abberufen und zahlreiche weitere in entlegene Landesteile versetzt. Mit der kurz darauf am 25. Juli in Kraft getretenen neuen Verfassung unterliegen Richter der Kontrolle und den Anweisungen der Exekutive.

Im Oktober 2024 ließ sich Saïed zum zweiten Mal zum Staatspräsidenten wählen, nachdem er jeden konkurrierenden Kandidaten ausgeschaltet hatte, ohne dass ein Militärputsch oder die Anwendung von Gewalt notwendig gewesen wären. Richterinnen und Richter haben nun nur noch die Wahl, unter den gegebenen Bedingungen in der komfortablen Position des Amts zu verbleiben oder den Weg in die Arbeitslosigkeit zu gehen. Damit nimmt die Justiz geräuschlos wieder ihre servile Rolle ein, die sie vor dem revolutionären Aufstand des sogenannten Arabischen Frühlings in den Zeiten der Diktaturen von Zine Al-Abidine Ben Ali (1987–2011) und Habib Bourguiba (1957–1987) innehatte.

Im demokratischen Prozess Tunesiens stellt diese justizielle Farce eine Zäsur dar, gerade deshalb wird sie wohl auch so demonstrativ inszeniert: Der Rechtsstaat wird delegitimiert, juristische Willkür und die Verweigerung elementarer Menschenrechte werden zur Alltagspraxis und juristisch abgesegnet. Tunesischen Menschenrechtsorganisationen, die es immer noch gibt, wird die Gefährlichkeit und Aussichtslosigkeit ihres Handelns signalisiert. Die Masse der Bevölkerung sorgt sich ohnehin nur noch um die ständig steigenden Preise für Lebensmittel und Mieten – darüber hinaus allenfalls um die »Umvolkung« des Landes, wie sie der Staatspräsident beschwört. Demnach werde der arabisch-islamische Charakter des Landes »überfremdet« durch eine Invasion christlich-heidnischer Immigranten schwarzer Hautfarbe. Der EU kann es letztlich nur recht sein: In Saïeds heillos überfüllten Knästen warten schon die Kandidaten für den nächsten Prozess. Sie hatten versucht, Geflüchteten und ihren Babys im kalten tunesischen Winter ein Dach über dem Kopf zu beschaffen.

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