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Aus: Ausgabe vom 24.04.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Ungewisse Hoffnungen

Beredtes Schweigen in einer belgischen Tennisakademie: Der Spielfilm »Julie bleibt still«
Von Holger Römers
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Die Ökonomie des Verdachts beim möglichen Profitennisnachwuchs

Zu Beginn von »Julie bleibt still« ist die jugendliche Pro­tagonistin beim Tennistraining zu beobachten, wozu Julie (Tessa Van den Broeck) bezeichnenderweise weder ihres Trainers noch einer Mitspielerin oder eines Balls bedarf. In einer leeren, halbdunklen Halle tänzelt sie die Grundlinie entlang und eilt zum Netz und wieder zurück, während ihr Schläger im Rhythmus imaginärer Ballwechsel die Luft zerschneidet. Das wirkt als Sinnbild für einen Solipsismus, der sich als die Kehrseite des Leistungssports verstehen lässt, der Athleten ständige Fokussierung und Konzentration abverlangt. Im weiteren Verlauf seines Spielfilmdebüts wirft Regisseur Leonardo van Dijl allerdings subtil die Frage auf, ob Julies Bezug aufs eigene Selbst und die Umwelt zugleich Symptom einer Traumatisierung ist – und diese gegebenenfalls durch den Sportbetrieb begünstigt wurde.

Das Drehbuch, das der 1991 geborene Belgier mit Ruth Becquart (der Darstellerin von Julies Mutter) verfasst hat, stellt die Hauptfigur an die Schwelle einer möglichen Profikarriere und gibt damit unausgesprochen der Skepsis Anlass, ob sich die Selbstzucht der Schülerin wohl künftig auszahlen mag. Entsprechende Unwägbarkeiten sind nicht nur wegen thematisch naheliegender Assoziation an den ersten Akt von Luca Guadagninos »Challengers – Rivalen« zu erahnen, sondern auch wegen der eingestreuten Hinweise auf eine Verletzung, die Julie soeben auskuriert hat. Wenn sie aus dem Unterricht spaziert, um einen Rehatermin wahrzunehmen, deuten sich immerhin Privilegien an, die das sportliche Talent dem Teenager aktuell einträgt. Derweil hat beim nationalen Tennisverband ein Auswahlverfahren begonnen, von dem abhängen dürfte, ob Julie zusätzliche Förderung erhalten wird.

Der dünne Plot wird indes durch die Nachricht vom Selbstmord einer jungen Frau angestoßen, die sozusagen Julies Vorgängerin im Tennisklub war, da sie einst als dessen größte Nachwuchshoffnung galt – ohne je eine Profikarriere einschlagen zu können. Die Verstorbene bekommen wir nur in Bildern eines älteren TV-Beitrags zu sehen, den die Protagonistin auf ihrem Smartphone betrachtet. Und ebenso mittelbar führt Van Dijl den Mann ein, der zuvor die Selbstmörderin und zuletzt Julie trainiert hat. Jérémy (Laurent Caron) ist vom Verein suspendiert worden, ohne dass bekannt würde, welche Regelverletzungen ihm vorgeworfen werden.

Unter den Vorzeichen realer Missbrauchsskandale im Leistungssport liegt es jedoch nahe, dass das Publikum ein entsprechender Verdacht beschleicht. Argwöhnisch wird man also nicht nur auf die wenigen Situationen schauen, in denen Julie mit Jérémy konfrontiert ist, sondern auch auf jene, die diese Konstellation variieren, etwa mit dem neuen Coach Backie (Pierre Gervais). Dabei lässt der Filmemacher die objektive Mehrdeutigkeit von Körpersprache zur Geltung kommen, indem er Szenen bevorzugt ungeschnitten aus statischen Einstellungen aufbaut, wobei die gelegentliche Verlagerung des Geschehens ins Off die Beschränktheit jedes Blickwinkels bewusst macht. Entsprechend unbestimmt bleibt, auf welche Episode in der Vergangenheit sich eine knappe Beteuerung Jérémys gegenüber Julie bezieht. Dass der vage Halbsatz später Beweiskraft gewinnen kann, spricht freilich für die Genauigkeit der spröden Dramaturgie. Sie schiebt der wortkargen Introvertiertheit der Hauptfigur, die Kameramann Nicolas Karakatsanis durch kurze Schärfebereiche unterstreicht, die die Personen in Julies Umgebung oft zu Schemen verschwimmen lassen, nie einen eindimensionalen Grund unter. Jedenfalls zeichnet sich die Ökonomie des Nachwuchssports ab, wenn einzelne Dialogsätze die unterschiedlichen Stundenhonorare von Jérémy und Backie erwähnen oder die hohen Mitgliedsbeiträge von mäßig begabten Kindern aus reichem Haus. Diese werden offenbar von Julies Vereinszugehörigkeit angelockt – die für diese Tochter einer Mittelschichtfamilie dank werbewirksamem Erfolg gratis ist.

Unterdessen wird die vom Titel implizierte Frage, ob die junge Frau ihr Schweigen über Jérémy brechen wird, nicht nur durch regelmäßige Angebote von Nebenfiguren zur Aussprache zugespitzt, sondern auch – wunderbar banal – durch die Mehrsprachigkeit des belgischen Handlungsortes: Die auftretenden Figuren können sich anscheinend gleichermaßen ungezwungen im Französischen wie im Niederländischen mitteilen, wie der beiläufige Wechsel der Dialogsprachen klarmacht. Um so mehr fällt wiederum das befangene Stammeln auf, das im Deutschunterricht den einsilbigen Umgang mit der dritten offiziellen Landessprache prägt.

»Julie bleibt still«, Regie: Leonardo Van Dijl, Belgien/Schweden 100 Min., Kinostart: heute

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