Überich und Knöterich
Von Marc Hieronimus
Als Sigmund Freud die Psychoanalyse entwarf, war ein Wechsel des Geschlechts noch kein zweiminütiger Verwaltungs- und/oder dreistündiger Metzgers-, sondern schlichtweg ein Akt der Unmöglichkeit. Damals hatten, von seltenen tragischen Ausnahmen abgesehen, Männer einen Penis und Frauen eine Vagina. Man konnte sogar umgekehrt von diesen auf jene schließen. Mit dem Geschlecht einher gingen spezifische Erfahrungen, die die biologisch gegebenen Unterschiede um soziale und psychische vergrößerten. Der eine hatte Kastrationsangst, die andere Penisneid und diese beiden trugen – neben vielen anderen (Epi-)Phänomenen – zum Fortbestehen von Autorität und »Anstand« bei. Man muss nur Marx und Freud zusammendenken, schon bekommt man den Durchblick. Und das Kündigungsschreiben von KPD und psychoanalytischer Vereinigung, wenn man zufällig Wilhelm Reich ist. Neben den persönlichkeits- und weltgeschichtlichen hatte bzw. hat die Sache mit der frühkindlichen Prägung auch im Alltag spürbare Auswirkungen. Im Garten zum Beispiel stoßen bekanntlich Kultur auf Natur, Ich und Überich auf Knöter-, Breit- und Spitzwegerich. Die ältere Frau vom Haus nebenan, recht duldsam, was Trompeten-, Schlagzeug- und andere Klänge betrifft, beharrt darauf, dass ich Hecken, Bäume und Rankpflanzen zurückschneide, weil sie ihr angeblich die Sonne nehmen. Die physikalisch-meteorologische Unmöglichkeit dahinter muss hier unskizziert bleiben. Festzuhalten ist, dass die Dame sich immer eine Tochter gewünscht, aber zwei Söhne bekommen hat. Da ist es tiefen- wie küchenpsychologisch nur verständlich, dass sie bei mir etwas abschneiden möchte. Dass ihr Mann ihr beisteht, bekräftigt die These nur: Lieber ihm als mir, wird er sich sagen. Die gute Nachricht ist: Manche Neurosen verwelken, ohne im nächsten Frühjahr wiederzukehren. Früher hätte ich mich trotzig gestellt wie (viel zuwenig) gegen meinen Vater, heute sind die Hecke raspelkurz, der schöne Rote Halbriegel halbiert, der Knöterich vernichtet und die Söhne Ehemänner und Väter. Von Mädchen.
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