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Aus: Ausgabe vom 26.04.2025, Seite 10 / Feuilleton
Geschichtspolitik

Es muss gebrüllt werden

Vom Fall Unseld zum Fall Maier? Charlotte Gneuß und Dana Vowinckel im Entlarvungsfuror
Von Jürgen Roth
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Im Stahlgriff des »Schweigekartells«? Siegfried Unseld 1986 auf der Buchmesse Frankfurt am Main

Andreas Maier ist ein Freund von mir. Daher springe ich ihm bei; aber nicht nur deshalb. Anzuzeigen ist nämlich ein obszöner kulturbetrieblicher Vorgang.

Bekanntlich hat die Wochenschrift Die Zeit verbreitet, dass Siegfried Unseld, der berühmte, 2002 verstorbene Patriarch des Verlages Suhrkamp, mit siebzehn Jahren der NSDAP beigetreten war. Das wussten die Interessierten zwar bereits seit zirka 1946, allerdings witterten sie im klugen Hamburg nun das, was man einen Skandal nennt, und dröhnten die Republik mit ungefähr vierhundert causabezüglichen Artikeln voll, einer empörungsstärker als der andere.

In der FAZ erschienen daraufhin etliche Gastbeiträge, in denen Schriftsteller, die Suhrkamp verbunden sind, »Stellung bezogen« – so heißt das wohl in der Übermenschenrepublik Deutschland. Es darf nicht mehr erzählt und erwogen, allzeit muss die amtliche Haltungslinie in die bekümmerte Welt hinausgebrüllt werden.

Ob das auf die Texte in der FAZ zutrifft, kann ich nicht beurteilen. Ich kenne lediglich den Essay von Andreas (»Im nachhinein«, 14. April), diese behutsame, tastende Erkundung zu seinem Verhältnis zu seiner Familie und zu seinem Verleger.

Maier nennt seine historische Exkursion den Versuch einer »Selbstaufklärung über mich als Kind der Schweigekinder«. Er stellt voran, dass er die »Nachricht« von Unselds Parteimitgliedschaft »nicht interessant« finde und statt dessen über das »Generationenübergreifende« sprechen möchte. Maier öffnet einen Reflexionsraum, er redet von Angehörigkeit, Überlieferung, Hemmungen und macht mit jedem Satz klar, welch mühsamer Verstehensprozess die (Selbst-)Verständigung über geschichtlich bedingte oder gerahmte Erfahrungen ist.

Was wäre gewesen, hätte Unseld erklärt, er sei nie in der NSDAP gewesen? Maier schreibt – und schränkt die Aussage, ahnend, was sie nach sich ziehen kann, augenblicklich ein –: »Für mich wäre es gleich geblieben, mir ist es im nachhinein egal. Das ist die erste Reaktion. Aber Achtung und – Deckung! Vieles an dieser Reaktion ist zu eindimensional, zu verkürzend und verliert das eigentlich Interessante oder Erzählenswerte aus den Augen.« Denn was hätte, andersherum, das heute allerorten wohlfeil herumgereichte Bekennertum gezeitigt? »Wäre Unseld ein so hoffnungs- und zukunftsträchtiger Adlatus Suhrkamps geworden, hätte dieser ›davon‹ gewusst? Dann müsste jetzt natürlich auch die gesamte Geschichte des Verlags unter Peter Suhrkamp umgeschrieben werden« – und damit die Kulturgeschichte der Bundesrepublik.

Andreas Maier gibt zu bedenken, dass wir praktisch alles in die Tonne kloppen müssten: die Fernsehschauspieler zum Beispiel, das gesamte Alltagsgepräge, ohne dessen naiven »Genuss« kein Auskommen ist, auch die Gruppe 47. Man erinnere sich bloß an das SS-Ekel Grass, an Böll und an den Ethikhauptdarsteller Walter Jens – diese drei Gestalten (es gab weitere) waren die heuchlerischen Vorläufer der heutigen Wertekämpfer. Gleichwohl bahnte dieser mindestens merkwürdige Verbund großen Dichtern wie Ror Wolf, Jürgen Becker, Handke und Piwitt eine Art Karriere.

Maier zeichnet den Bogen hin zum »Generationenübergreifenden« weiter: »Ich bin beziehungsweise war bislang unverdächtig, je mit dem Nationalsozialismus auch nur im Ansatz kokettiert zu haben. Als Schüler war ich grundlegend ›links‹, schon jung auf allen Friedensdemos dabei und habe mich einigermaßen früh mit der Vernichtungsgeschichte der Nazis ›beschäftigt‹ (…). Errichten wir es mal modellartig, das bundesdeutsche ›Schweigekartell‹, damit wir es auch ganz in seinem ständigen Schuld- und Kontaktschuldcharakter überblicken können. Und sage keiner, er habe etwas nicht gewusst! Wer nicht nachfragt bis zum endgültigen Geständnis seines Gegenübers, ist er nicht auch dem Kartell verfallen?«

Und wenn er nichts gewusst hat? Ist Ehrlichkeit ein Malus? Oder macht er sich Vorwürfe? »Ich hatte nie erfahren, dass das Haus, in dem meine Großeltern und meine Mutter nach dem Krieg gelebt haben, vorher einer jüdischen Familie gehört hatte, die schon mit meinen Urgroßeltern bekannt gewesen sein muss. Der betreffende Name Seligmann fiel in unserer Nachkriegsfamilie nie. Und was das Firmengrundstück angeht, dessen Erwerb ich immer zirka auf das Jahr 1875 datiert hatte – diese Firma ist Urquell letztlich auch meines ökonomischen Wohlstandslebens als Kind und Jugendlicher –, wird es ebenfalls schnell dubios. (…) Bis heute weiß ich nichts Näheres über die Familie meiner Mutterseite, und es interessiert mich auch jetzt nicht besonders, weil ich nicht einmal im Ansatz ermessen könnte, was es bedeutet, denn ich habe diese Zeiten gar nicht erlebt. Ich musste und muss mich nicht vor mir selbst auf die richtige Stelle setzen, indem ich Geständnisse erzwinge. Aber ich habe erkennen müssen, dass das Zwielicht immer größer war als gedacht.«

Mein Großvater, den ich ob seiner Sanftmut, Fürsorglichkeit und Melancholie geliebt habe, stammte aus ärmlichsten Verhältnissen. Als Kleinstbauer fand er im Krieg Arbeit in der Munitionsanstalt. Da war die Mitgliedschaft in der Deutschen Arbeitsfront wohl obligatorisch. Ob er in den Karteien der NSDAP zu finden wäre? Es interessierte mich nie. Ich weiß, dass er Zwangsarbeitern Brot zugesteckt hat, worauf die Todesstrafe stand.

Wie sieht es da mit dem Großvater der von der Zeit, die die Konzeption und das Layout von Goebbels Blatt Das Reich übernommen hatte, bis zum ersehnten grünen Endsieg gehätschelten, kriegstreiberischen Frau Baerbock aus, die die Taten des Altvorderen rühmt, der an der Ostfront die jüdischen Bolschewiken abgeschlachtet hatte? Wie mit dem ehemaligen Herausgeber Helmut Schmidt, der im Felde slawische Untermenschen offenbar getätschelt hat?

Das haben sich die zwei recht jungen, mit historischem Wissen wenig belasteten Damen Charlotte Gneuß und Dana Vowinckel allem Anschein nach nicht gefragt. Statt dessen versuchten sie Andreas Maier am 22. April unter der Überschrift »Was wir den Toten schulden« zu erledigen. Ihr vor Anmaßung dampfendes, zutiefst unanständiges Pamphlet gleicht als Dokument »besinnungsloser Gesinnungsschnöselei« (Michael Sailer) einem Rufmord.

Nun, man muss am Deutschen Literaturinstitut studiert haben, um »scheinbar« und »anscheinend« zu verwechseln, pausenlos »einen Unterschied« zu »machen«, »die ein oder andere« hinzutippen, »mitläuferischen Handel« anzuprangern, »materielles Gut« zu »ermöglichen« und »kritisches Nachdenken über moralische Fragen« zu fordern, als sei Denken (Nachdenken ist ein Pleonasmus) jemals unkritisch, das heißt nicht analytisch, zergliedernd gewesen.

Wer nicht schreiben kann, vermag auch nicht zu lesen. Hermeneutische Verfahren sind Gneuß und Vowinckel nicht geläufig. Das einzige Mittel, das den beiden rigorosen, aufgeplusterten Moralpriesterinnen zur Verfügung steht, ist die Insinuation, die von Züchtigungsphantasien befeuert wird. Maier »verrät« sich (ertappt!), »scheint kein Problem damit zu haben, dass die finanziellen Grundlagen, die seinen Lebensweg ermöglicht haben, während der NS-Zeit womöglich auf verbrecherische Weise vermehrt oder gar wesentlich begründet wurden« (was für eine erneute Stilbombe!), Maier »gibt zu« (holla!), frönt der »Gleichgültigkeit«, will »sich entlasten«, »verkennt« dieses und jenes, stiehlt sich aus der »konkreten Verantwortung« (kennt er wenigstens eine abstrakte Verantwortung?) und ist, fassen wir den Entlarvungsdreck zusammen, ein hochheikler Autor: »NS-Täter sind nicht nur Figuren, die interessantes Futter (interessantes Futter, kein ödes!) für autofiktionale Texte liefern, sondern Menschen, die Straftaten begangen haben, die oftmals bis heute nicht gesühnt sind, und die juristisch belangt hätten werden müssen. Dass Maiers Desinteresse am konkreten Verhalten seiner Vorfahren und ihrer etwaigen Schuld keine Empörung hervorgerufen hat, weist auf ein umfangreiches erinnerungspolitisches Problem hin. (…) Statt dessen verweilt er darin, Bücher über das innerfamiliäre Schweigen zu schreiben, die er ›Entschuldigungsliteratur‹ nennt.« Was er, notabene, im Gestus des Erschrockenseins tut.

Ich verweile jetzt nicht länger darin, diesen Artikel zu schreiben. Der Leser möge entscheiden, ob ihm die von Zweifeln getragenen, produktionsästhetischen Erwägungen des Kameraden Maier oder die unverschämten Abmaiereien der stramm auf Linie watschelnden Spitzenkräfte der Aufklärung lieber sind.

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